Lourdes
Pierre, dessen Soutane er seine Verehrung erwies, niedersitzen. Dann sagte er überaus höflich:
»Mein lieber Kollege! Sie gestatten mir fortzufahren. Wir waren eben dabei, das Fräulein zu untersuchen.«
Es handelte sich um eine Taube, ein Bauernmädchen von zwanzig Jahren, das in dem einen Armsessel saß. Aber anstatt zuzuhören, begnügte sich der sehr ermüdete Pierre, dessen Kopf noch summte, damit, umher zu schauen, indem er versuchte, sich Rechenschaft über die Leute abzulegen, die sich da befanden. Es konnten einige fünfzig Leute sein; viele hielten sich aufrecht, indem sie sich mit dem Rücken an die Wand lehnten. Vor den zwei Tischen saßen ihrer fünf, in der Mitte der Vorstand des Weihdienstes, der unaufhörlich ein dickes Register zu Rate zog, dann ein Pater von Mariä Himmelfahrt und drei junge Seminaristen, die als Sekretäre ihres Amtes walteten. Sie schrieben, gingen die Akten durch und ordneten diese nach jeder Untersuchung wieder in ihre Fächer ein. Pierre interessierte sich besonders für einen Pater von der Unbefleckten Empfängnis, den Pater Dargelès, Chefredakteur der »Grotten-Zeitung«, den man ihm am Morgen gezeigt hatte. Sein kleines, unbedeutendes Gesicht mit den blinzelnden Augen, der spitzigen Nase und dem feinen Mund lächelte fortwährend. Er saß bescheiden am Ende des niedrigsten der zwei Tische und machte bisweilen Notizen für seine Zeitung. Während der drei Tage der nationalen Pilgerfahrt zeigte er sich allein von der ganzen geistlichen Genossenschaft. Aber hinter ihm ahnte man alle die anderen, die gleichsam eine langsam angewachsene, verborgene Macht darstellten, die alles organisierte und alles zusammenfaßte.
Im übrigen zählte die Versammlung fast nur Neugierige, Zeugen, einige zwanzig Ärzte und etliche Priester. Die Ärzte, die so ziemlich von überallher gekommen waren, bewahrten größtenteils Stillschweigen. Einige von ihnen erkühnten sich, Fragen zu stellen. Sie tauschten dann und wann zweideutige Blicke aus und schienen mehr beschäftigt, sich untereinander zu überwachen, als die ihrer Prüfung unterworfenen Tatsachen festzustellen. Wer konnten sie sein? Vollständig unbekannte Namen waren hergesagt worden, nur ein einziger hatte eine Bewegung verursacht, der eines berühmten Doktors einer katholischen Universität.
An diesem Tag hob Doktor Bonarny, der sich niemals setzte, wenn er die Sitzung leitete und die Kranken befragte, seine zuvorkommenden Artigkeiten vornehmlich für einen kleinen blonden Herrn auf. Es war ein Schriftsteller, der für eine der meistgelesenen Pariser Zeitungen arbeitete und den der Zufall am gleichen Morgen nach Lourdes gebracht hatte. War da nicht ein Ungläubiger zu bekehren, ein Einfluß und eine Gelegenheit zur Bekanntmachung des Vorgefallenen nutzbar zu machen? Der Doktor hatte ihn genötigt, den zweiten Armsessel einzunehmen. Er trug eine lächelnde Gutmütigkeit zur Schau, gab ihm eine große Vorstellung und versicherte ihn wiederholt, man hätte nichts zu verheimlichen, da alles beim hellen Tag vor sich gehe.
»Wir verlangen nur Licht«, sagte er wiederholt. »Wir hören nicht auf, Männer von gutem Willen zur Prüfung der Tatsachen aufzufordern.«
Weil sich dann die behauptete Heilung der Tauben als sehr ungenügend herausstellte, fuhr er das Mädchen ein wenig an.
»Gehen Sie! Warum nicht gar, meine Tochter! Es ist nur ein Anfang ... Sie müssen noch einmal kommen ...«
Und halblaut fügte er bei:
»Wenn man auf sie hören würde, wären sie alle geheilt. Wir nehmen aber nur bewiesene Heilungen an, die klar sind wie die Sonne. Bemerken Sie wohl, daß ich Heilungen sage und nicht Wunder. Denn wir Ärzte erlauben uns keine Auslegung. Wir sind einfach hier, um festzustellen, daß die unserer Prüfung unterstellten Kranken keine Spur von Krankheit mehr zeigen.«
Er brüstete sich mit seiner Rechtschaffenheit und war weder ein größerer Einfaltspinsel noch ein größerer Lügner als etwa ein anderer, der gläubig war, ohne zu glauben und sich die unverständliche und überaus erstaunliche Überzeugung zu eigen gemacht hatte, daß das Unmögliche immer in Erfüllung gehen könne. Am Abend seines ärztlichen Lebens hatte er sich so bei der Grotte eine Ausnahmestellung geschaffen, die ihre Unannehmlichkeiten, aber auch ihre Vorteile besaß, im ganzen jedoch sehr angenehm und glücklich war.
Jetzt erklärte er auf eine Frage des Pariser Journalisten die Art und Weise, wie er vorging. Jeder Kranke der Pilgerfahrt kam mit
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