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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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einem Aktenheft an, in dem sich fast stets ein Zeugnis des ihn behandelnden Arztes befand. Manchmal waren sogar Zeugnisse verschiedener Ärzte und eine ganze Krankheitsgeschichte vorhanden. Wenn sich dann eine Heilung vollzogen hatte und die gesundgewordene Person sich vorstellte, so genügte es, sich auf ihre Papiere zu berufen und die Zeugnisse nachzulesen, um die Krankheit, an der sie gelitten hatte, festzustellen und durch eine Untersuchung zu konstatieren, ob diese in der Tat verschwunden sei.
    Pierre hörte zu. Seitdem er in Ruhe dasaß, legte sich seine Aufregung, und er fand seinen klaren Verstand wieder. Augenblicklich belästigte ihn nur die Hitze. Angezogen durch die Erklärungen des Doktors Bonamy und begierig, sich eine Meinung zu bilden, hätte er, ohne das Kleid, das er trug, auch das Wort ergriffen. Aber das Kleid des Priesters verurteilte ihn zu einem fortwährenden zurückhaltenden Benehmen. Deshalb war er sehr erfreut, den kleinen blonden Herrn, den einflußreichen Schriftsteller, Einwendungen vorbringen zu hören, die sich auf der Stelle darboten. Schien es nicht überaus ungeeignet, daß der eine Arzt die Diagnose der Krankheit vornahm und ein anderer die Heilung feststellte? Das war doch sicher eine ununterbrochene Quelle von möglichen Irrtümern. Das beste wäre doch sicher, wenn eine ärztliche Kommission alle Kranken gleich bei ihrer Ankunft in Lourdes untersuchte und Protokolle abfaßte, auf die dieselbe Kommission sich in jedem Heilungsfall beziehen könnte. Dagegen erhob der Doktor Bonamy Einspruch, indem er mit einiger Berechtigung vorbrachte, daß eine Kommission niemals einer so riesenhaften Arbeit gewachsen wäre.
    »Bedenken Sie doch! Tausend Kranke an einem Morgen zu untersuchen! Und welche verschiedenen Theorien, welche Auseinandersetzungen und sich widersprechenden Diagnosen würden die Ungewißheit vermehren! Die vorhergehende, beinahe unmöglich durchzuführende Untersuchung der Kranken gäbe in der Tat Veranlassung zu ebenso großen Irrtümern.« In der Praxis mußte man sich an diese, von den Ärzten der Kranken ausgestellten Zeugnisse halten, die eine wesentliche, entscheidende Wichtigkeit gewannen. Man blätterte auf dem einen Tisch in den Aktenheften und ließ den Pariser Journalisten Zeugnisse lesen. Viele waren unangenehm kurz, andere, besser abgefaßte spezifizierten die Krankheiten genau. Einige Unterschriften der Ärzte waren sogar von den Bürgermeistern beglaubigt. Aber es blieben noch zahllose, unbezwingliche Zweifel übrig. Wer waren die Ärzte? Besaßen sie die nötige wissenschaftliche Autorität? Hatten sie nicht unbekannten Umständen, rein persönlichen Interessen Gehör geschenkt? Man war versucht, über jeden von ihnen nähere Auskünfte zu fordern. Sobald alles auf dem vom Kranken mitgebrachten Aktenheft beruhte, hätte es einer sehr sorgfältigen Kontrolle der Dokumente bedurft. Denn alles fiel zusammen, wenn nicht eine strenge Kritik die Gewißheit der Tatsachen festgestellt hatte.
    Ganz rot, in Schweiß gebadet, mühte sich Doktor Bonamy ab, folgendes darzulegen:
    »Aber gerade das tun wir ja! Sobald ein Heilungsfall uns auf natürlichem Wege unerklärlich erscheint, schreiten wir zu einer eingehenden Untersuchung. Wir bitten die geheilte Person, wiederholt hierherzukommen, um sich untersuchen zu lassen. Und Sie sehen wohl, daß wir uns mit allen möglichen kenntnisreichen Leuten umgeben. Die Herren, die uns zuhören, sind fast lauter Ärzte. Sie sind aus den verschiedensten Gegenden Frankreichs herbeigeeilt. Wir beschwören sie, uns ihre Zweifel mitzuteilen und die Fälle mit uns zu erörtern. Über jede Sitzung wird ein sehr ins einzelne gehendes Protokoll aufgenommen. Sie verstehen mich, meine Herren! Legen Sie nur Verwahrung ein, wenn hier irgend etwas geschehen sollte, was gegen Ihre Überzeugung ist.« Nicht einer von der Versammlung rührte sich. Die Mehrzahl der anwesenden Ärzte mußten Katholiken sein: natürlich beugten sie sich. Und was die anderen betrifft, die Ungläubigen, die Gelehrten ohne Vorbehalt, so schauten sie zu, interessierten sich für gewisse Erscheinungen, vermieden es aber aus Höflichkeit, in – übrigens unnütze – Erörterungen einzutreten. Wenn ihnen als verständigen Männern das Mißbehagen zu groß wurde und sie sich dem Ärger nahe fühlten, dann gingen sie weg.
    Als niemand ein Wort sprach, triumphierte Doktor Bonamy. Und als der Journalist ihn fragte, ob er denn allein eine so große Arbeit zu bewältigen hätte,

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