Lourdes
einer Tasse Fleischbrühe zu Hilfe eilte. Dann entspann sich zwischen ihnen um die Kranke herum ein Wettstreit von Eifer. Raymonde legte Gewicht darauf, ihre Fleischbrühe anzubringen. Artig hielt sie die Tasse und nahm dabei die Miene einer guten Krankenwärterin an. Gérard fand dieses Mädchen ohne Vermögen, das schon so erfahren in den Dingen des Lebens war und ganz bereit schien, mit fester Hand liebenswürdig zu sein, trotz allem ganz reizend. Berthaud mußte recht haben: das war die Frau, deren er bedurfte.
»Fräulein«, fragte er, »wünschen Sie, daß ich sie ein wenig in die Höhe hebe?«
»Ich danke, mein Herr! Ich bin wohl stark genug ... Und dann, ich will ihr mit dem Löffel zu trinken geben, das wird besser gehen.«
Marie, die hartnäckig in ihrem feindlichen Schweigen verharrte, kam wieder zu sich und lehnte die Fleischbrühe mit einer Gebärde ab. Sie wünschte, daß man sie in Ruhe lasse und nicht mit ihr spreche. Erst als die zwei anderen, einander zulächelnd, sich entfernt hatten, sagte sie mit dumpfer Stimme zu Pierre:
»Mein Vater ist nicht gekommen?«
Nachdem der Priester einen Augenblick gezaudert hatte, mußte er die Wahrheit eingestehen:
»Ich habe Ihren Vater schlafend verlassen, und er wird wohl noch nicht aufgewacht sein.«
Darauf fiel Marie in ihre äußerste Entmutigung zurück. Sie schickte auch ihn weg mit einer Gebärde, mit der sie jede Unterstützung ablehnte. Sie lag unbeweglich und betete nicht mehr. Mit großen, stieren Augen betrachtete sie die Jungfrau aus Marmor, die weiße Statue im Lichterglanz der Grotte.
Als es vier Uhr schlug, erinnerte sich Pierre des Stelldicheins, das ihm der Doktor Chassaigne gegeben. Gedrückten Herzens ging er nach dem Büro, in dem die Wunder festgestellt werden.
IV
Doktor Chassaigne erwartete Pierre vor dem Feststellungsbüro. Dort war jedoch eine dichte, fieberhaft aufgeregte Menge versammelt, die den eintretenden Kranken auflauerte und sie ausfragte. Beim Herauskommen jubelte sie ihnen zu, da sich die Nachricht von einem Wunder verbreitete: ein Blinder sah wieder, eine Taube hörte wieder und ein Gichtbrüchiger konnte wieder gehen.
Pierre hatte große Mühe durch dieses Getümmel zu dringen.
»Nun?« fragte er den Doktor,– »hat sich ein Wunder ereignet, aber ein wirkliches, ein unbestreitbares?«
Der Doktor, nachsichtig in seinem neuen Glauben, lächelte.
»Ah, das wäre!« sagte er. »Ein Wunder geschieht nicht auf Kommando. Gott schreitet ein, wann er will.«
Pfleger bewachten die Tür streng. Aber alle kannten den Doktor, sie traten achtungsvoll auf die Seite und ließen ihn mit seinem Begleiter eintreten. Dies Büro, in dem die Heilungen festgestellt wurden, war sehr schlecht in einer elenden Bretterhütte untergebracht, die aus zwei Räumen bestand, einem engen Vorzimmer und einem allgemeinen, unzulänglichen Versammlungssaal. Übrigens ging die Rede, man würde diesen Dienstzweig verbessern, indem man ihm im kommenden Jahr ein ausgedehnteres Quartier, ein ganzes, weites Lokal unter einer Rampe der Rosenkranzkirche anweisen wollte, dessen Einrichtung man bereits vorbereitete.
Im Vorzimmer, in dem nur eine hölzerne Bank stand, sah Pierre zwei Kranke sitzen, die unter der Aufsicht eines jungen Pflegers warteten, bis die Reihe an sie kam. Als er jedoch in den allgemeinen Saal eintrat, überraschte ihn die Anzahl der dort zusammengedrängten Personen, während ihm die erstickende Hitze, die zwischen den von der Sonne durchglühten Holzwänden angesammelt war, das Gesicht verbrannte. Der Saal war ein viereckiger, hellgelb angemalter, nackter Raum, mit einem einzigen Fenster, dessen Scheiben mit weißer Farbe getrübt waren, damit die draußen sich drückende Menge nichts sehen konnte. Man wagte nicht einmal, das Fenster zu öffnen, um den Saal zu lüften, denn sonst wäre eine Flut von neugierigen Köpfen im Rahmen sichtbar geworden. Die Einrichtung war primitiv: sie bestand aus zwei Tischen aus Tannenholz von ungleicher Höhe, die man an ihren Enden zusammengerückt und nicht einmal mit einer Decke bedeckt hatte, aus einer Art von großem Büchergestell mit Akten, Registern und Broschüren und einigen dreißig Strohstühlen, die den ganzen Fußboden einnahmen, und aus zwei alten, zerfetzten Armsesseln für die Kranken.
Sobald Doktor Bonamy ihn bemerkte, eilte er dem Doktor Chassaigne entgegen, an dem die Grotte eine ihrer letzten und ruhmreichsten Eroberungen gemacht hatte. Er fand einen Stuhl für ihn und hieß auch
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