Lourdes
Tücher auf der Bahre wurden zurückgezogen, und der starre Leichnam des Mannes zeigte sich mit seinen großen, hartnäckig offengebliebenen Augen. Man mußte ihn entkleiden, denn er hatte noch seinen Anzug am Leibe, und diese furchtbare Aufgabe ließ die Pfleger einen Augenblick zaudern. Pierre bemerkte, daß der Marquis von Salmon-Roquebert, der sich den Lebenden so ohne Widerwillen widmete, abseits getreten und gleichfalls niedergekniet war, wie um diesen Körper nicht berühren zu müssen. Er warf sich ebenfalls auf den Boden.
Pater Massias geriet in Begeisterung und betete mit so lauter Stimme, daß sie die seines Oberen, des Paters Fourcade, übertönte.
»Herr! Gib uns unseren Bruder wieder! Herr! Wirke dies zu deiner Ehre!«
Einer von den Helfern hatte sich entschlossen, an den Beinkleidern zu ziehen. Allein die Beine gaben nicht nach, und man hätte den Körper in die Höhe heben müssen. Ein anderer Helfer, der den alten Überrock aufknöpfte, machte die halblaute nachdenkliche Bemerkung, es wäre einfacher, alles mit Scheren aufzuschneiden; sonst käme man mit dem Geschäft niemals ans Ende.
Da stürzte Berthaud herbei. Er hatte den Baron Suire mit einem schnellen Wort zu Rate gezogen. Im Grunde mißbilligte er, als weltkluger Mann, daß der Pater Fourcade ein derartiges Abenteuer versucht hatte. Nur war es jetzt nicht mehr möglich, es einzustellen. Die Volksmenge wartete und flehte deshalb seit dem Morgen zu Gott. Die Klugheit gebot, es sogleich und unter Beobachtung der größtmöglichen Ehrfurcht vor dem Toten zu Ende zu führen. Darum dachte Berthaud, es wäre besser, ihn ganz angekleidet in den Weiher zu tauchen. Stünde er auf von den Toten, so wäre es immer noch Zeit, seine Kleider zu wechseln. Im entgegengesetzten Falle, mein Gott, würde es wenig verschlagen! Lebhaft sagte er dieses den Helfern und half ihnen, unter den Schenkeln und Schultern des Mannes Gurtriemen durchzuziehen.
Der Pater Fourcade hatte mit einem Zeichen des Kopfes zugestimmt. Indessen verdoppelte der Pater Massias seinen glühenden Eifer.
»Herr! Hauche ihn an, und er wird wiedergeboren sein! Herr! Gib ihm die Seele wieder, auf daß er dich lobpreise!«
Mit Anstrengung hoben die zwei Helfer den Mann an den Gurten in die Höhe, brachten ihn über den Weiher und ließen ihn, besorgt, daß er ihnen nicht entgleite, langsam ins Wasser hinab. Und Pierre, der, von Entsetzen ergriffen, nicht wegzuschauen vermochte, sah, wie der Leib untertauchte mit den armseligen Kleidern, deren Stoff an den Knochen festklebte und das Gerippe abzeichnete. Er schwamm wie ein Ertrunkener. Das abscheuliche dabei war, daß der Kopf trotz der Leichenstarre nach rückwärts fiel. Er blieb unter dem Wasser, und die Helfer mühten sich vergeblich ab, den Gurt unter den Achseln in die Höhe zu halten. Der Mann wäre fast auf den Grund des Baderaumes hinabgeglitten. Wie hätte er also seinen Atem wiederfinden können, da er den Mund voll Wasser hatte, während seine weitgeöffneten Augen unter diesem Schleier ein zweites Mal zu brechen schienen?
Die zwei Patres von Mariä Himmelfahrt sowie der Geistliche bemühten sich während der drei endlosen Minuten, da man ihn eintauchte, in einem Paroxismus von Hoffnung und Glauben, den Himmel mit Gewalt zu einer Offenbarung zu bestimmen.
»Herr! Schaue ihn nur an, und er wird auferstehen! Herr! Er erhebe sich auf dein Wort, auf daß er die Erde bekehre! Herr! Du brauchst nur ein Wort zu sagen, damit dir dein Volk zujauchze!«
Als ob ein Blutgefäß in seinem Hals gesprungen wäre, fiel der Pater Massias röchelnd auf seine Ellenbogen. Er hatte nur noch die Kraft, die Steinfliesen zu küssen. Von draußen drang das Geschrei der Menge herein, sowie der ohne Unterlaß wiederholte, vom Kapuziner ausgestoßene Ruf: »Herr! Heile unsere Kranken! Herr! Heile unsere Kranken!« Pierre fühlte, wie der Marquis neben ihm schauderte. Es war eine allgemeine Erleichterung, als Berthaud, verdrießlich über das Abenteuer, mit barscher Stimme sagte:
»Ziehen Sie ihn heraus! Ziehen Sie ihn doch heraus"«
Der Mann wurde herausgezogen und in seinen Lumpen, die an seinen Gliedern klebten, auf die Bahre gelegt. Seine Haare tropften, Bäche rannen und überschwemmten den Saal. Der Tote aber – blieb tot.
Alle hatten sich erhoben und betrachteten ihn inmitten eines peinlichen Schweigens. Als man ihn bedeckte und forttrug, folgte ihm Pater Fourcade, indem er sich auf die Schulter des Pater Massias stützte und sein gichtkrankes
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