Lourdes
Bein, dessen schmerzhafte Steifheit er einen Augenblick vergessen hatte, nachschleppte. Er fand schon die unerschrockene Heiterkeit seiner Seele wieder. Man hörte ihn, wie er während einer Pause zu der Menge sagte:
»Meine lieben Brüder! Meine lieben Schwestern! Gott hat ihn uns nicht wiedergeben wollen, ohne Zweifel deshalb, weil er ihn in seiner unendlichen Güte unter seinen Auserwählten bewahrt.«
Das war alles. Es war von dem Manne keine Rede mehr. Von neuem wurden Kranke herbeigebracht, auch die zwei anderen Baderäume waren besetzt. Mittlerweile beendigte der kleine Gustave, der den Vorgang ohne Schrecken, mit scharfem und neugierigem Auge verfolgt hatte, seine Entkleidung. Es zeigte sich ein armseliger, skrofulöser Kinderleib mit vorstehenden Rippen und stacheligen Rückgratwirbeln, ein Leib, so mager, daß seine Beine Rohrstäben glichen. Er hatte zwei Wunden, die eine am Schenkel, die andere in der Lendengegend. Letztere war entsetzlich: das Fleisch lag bloß. Gleichwohl lächelte er. Das Leiden hatte ihn so geläutert, daß er mit seinen fünfzehn Jahren die Überlegung und herzhafte Philosophie eines Mannes zu besitzen schien.
Der Marquis von Salmon-Roquebert, der ihn behutsam in seine Arme genommen hatte, lehnte den Beistand Pierres ab.
»Ich danke! Er wiegt nicht schwerer als ein Vogel. Und hab du keine Furcht, mein lieber Kleiner, ich werde sanft mit dir umgehen!«
»Oh, mein Herr! Ich scheue mich nicht vor dem kalten Wasser. Sie dürfen mich herzhaft untertauchen!«
Er wurde also in das Bad gebracht, in das man den toten Mann eingetaucht hatte. An der Tür hatten sich Frau Vigneron und Frau Chaise, die nicht eintreten durften, auf die Knie geworfen und beteten mit Andacht, während der in den Saal zugelassene Vater große Kreuze schlug.
Pierre ging hinweg, da er sich nicht mehr nützlich machen konnte. Der plötzlich erwachte Gedanke, daß es schon lange drei Uhr geschlagen, und daß Marie auf ihn warten mußte, trieb ihn zur Eile an. Aber als er sich durch die Menge hindurchzudrängen versuchte, sah er das Mädchen herankommen; sie wurde in ihrem kleinen Wagen von Gérard gezogen, der nicht aufgehört hatte, Kranke nach den Weihern zu bringen. Sie war ungeduldig geworden, da sie plötzlich die Gewißheit befiel, daß sie sich nunmehr in einem der Gnade würdigen Zustand befände. Sie empfing ihn mit einem Wort des Vorwurfs.
»Oh, mein Freund!« sagte sie, »Sie haben mich also vergessen!«
Er fand nichts zu erwidern. Er sah, wie sie in dem Eingang zum Weiher der Frauen verschwand, und fiel zum Tode traurig auf die Knie. So niedergeworfen wollte er sie dort erwarten, um sie geheilt und Loblieder singend, nach der Grotte zurückzuführen. Da sie ihrer Heilung sicher war, warum sollte sie nicht geheilt werden? Er selbst suchte vergeblich nach Gebetsworten in der Tiefe seines zerrütteten Wesens. Er blieb unter dem Eindruck der schrecklichen Dinge, die er soeben gesehen hatte, und fühlte sich zermalmt. Sein Gehirn war bedrückt, und er wußte nicht mehr, was er sah, noch was er glaubte. Einzig seine übergroße, zärtliche Liebe zu Marie hielt stand und machte ihm Bitten und Demütigung zum Bedürfnis. Er dachte, daß alle Niedrigen Gnade erlangen, wenn sie eine starke Liebe haben und die Mächtigen demütig anflehen. Und mit Befremden bemerkte er, daß auch er mit einer Stimme voller Angst, die aus der Tiefe seines Wesens aufstieg, in den Ruf der Menge einstimmte:
»Herr! Heile unsere Kranken! Herr! Heile unsere Kranken!«
Es dauerte zehn Minuten, vielleicht eine Viertelstunde. Dann erschien Marie wieder in ihrem Wagen. Ihr Gesicht war hoffnungslos und bleich. Ihre schönen Haare waren zu einem schweren goldenen Bündel zusammengeknotet, das das Wasser nicht berührt hatte. Sie war nicht geheilt. Die Gefühllosigkeit einer unendlichen Entmutigung machte ihr Antlitz hohler und länger, während ihre Augen sich abwandten, wie um denen des Priesters nicht zu begegnen, der sich, ergriffen und mit erstarrtem Herzen, entschloß, die Deichsel zu fassen und sie wieder vor die Grotte zu führen.
Das Geschrei der Gläubigen, die kniend, die Arme in Kreuzesform ausgebreitet, die Erde küßten, begann neuerdings mit wachsendem, durch die scharfe Stimme des Kapuziners aufgepeitschtem Wahnwitz:
»Herr! Heile unsere Kranken! Herr! Heile unsere Kranken!«
Als Pierre Marie wieder vor der Grotte zurechtrückte, bekam sie einen Ohnmachtsanfall. Gérard war da und sah, wie Raymonde auf der Stelle mit
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