Love Train
weshalb er das Spiel bei mir schnell aufgab. Während meine Mutter Juli auf Burgruinen, Brücken oder Aussichtstürmen immer von den Geländern wegzerren musste, auf die meine Schwester am liebsten geklettert wäre, versteckte ich mich hinter Mamas Beinen.
Richtig schlimm wurde es mit meiner Höhenangst aber erst, als wir letztes Jahr eine Klassenfahrt nach Berlin machten. Wir besichtigten den Reichstag, und nachdem wir uns bis in die Glaskuppel vorgearbeitet hatten, standen wir alle auf der Dachterrasse mit den Armen auf die Mauern gelehnt, um die Aussicht zu bewundern. Ohne dass ich es bemerkte â ich war in ein Gespräch mit Sue vertieft â, näherte sich Marco Messmann von hinten und gab mir einen Schubs, als wollte er mich über die Balustrade stoÃen.
Sue griff geistesgegenwärtig nach meinem Arm, und Marcos halbherziger Stoà hätte wahrscheinlich auch gar nicht ausgereicht, um mich in den Abgrund zu befördern, doch mir brach augenblicklich der Schweià aus, mein Herz begann zu rasen und Tränen schossen mir in die Augen. Es war kurz nachdem das eine Mal mit Marco passiert war und ich war zu der Zeit ohnehin ziemlich dünnhäutig. Auf jeden Fall heulte ich los, und Marcos Clique lachte auch noch darüber, obwohl er von unserer Klassenlehrerin Frau Dunshaupt eine ellenlange Strafpredigt kassierte. Seitdem bekomme ich jedenfalls schon Panik, wenn ich nur aus dem Fenster im ersten Stock schauen muss.
Aber wie sollte ich Juli erklären, dass ich auf gar keinen Fall mit ihr auf den Eiffelturm kommen würde, ohne ihr die ganze Geschichte zu erzählen?
Sollte man vor seinen Ãngsten davonlaufen? Eigentlich nicht . Aber es kann passieren, dass man dabei in die richtige Richtung rennt.
aus Lenas Tagebuch
Auf die Idee, den Eiffelturm zu erklimmen, waren auÃer Juli noch ein paar andere Touristen gekommen. Die Warteschlange wand sich auf verschlungenen Pfaden über den groÃen freien Platz unter dem Eisenkoloss.
Der Eiffelturm ist mit sieben Millionen Besuchern pro Jahr eine der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Frankreichs.
So stand es in meiner Paris-App â und ich schätzte, dass sich heute knapp die Hälfte dieser Besuchermenge hier versammelt hatte. In der App hingegen hieà es, allein im August kämen pro Tag etwa 35 000 Besucher, aber das war ja auch schon eine ganz schöne Menge.
Deshalb muss man mit einer Wartezeit von etwa einer Stunde rechnen. Am besten kommt man frühmorgens oder spätabends, der Turm ist im Sommer täglich von 9 bis 24 Uhr geöffnet.
Ich checkte die Zeitanzeige auf meinem Handy, es war kurz nach zwölf mittags. Die Chance auf kürzere Wartezeiten am frühen Morgen oder späten Abend hatten wir definitiv vertan. Aber mir konnte es nur recht sein. Je länger wir warten mussten, desto länger würde es dauern, bis ich entweder meiner Schwester meine Höhenangst gestehen, oder aber mich auf die 276 Meter über dem sicheren Boden gelegene dritte Plattform begeben musste. Die Wahl zwischen den beiden Möglichkeiten erschien mir in etwa so attraktiv wie eine Entscheidung zwischen Wurzelbehandlung und Mandeloperation. Das hatte ich zwar zum Glück beides noch nicht über mich ergehen lassen müssen, doch ich stellte es mir ähnlich scheuÃlich vor.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und lieà die gewaltige Konstruktion auf mich wirken. 18 000 Einzelteile, die von 2,5 Millionen Nieten zusammengehalten wurden, und das seit über 120 Jahren. Obwohl es mehr als unwahrscheinlich war, dass das Gebilde ausgerechnet heute einstürzen würde, brach mir bei der Betrachtung dieses riesigen, massiv und fragil zugleich wirkenden Turmes der Schweià aus. Vielleicht lag es aber auch an der Sonne, die den Wartenden mit voller Kraft auf die Köpfe knallte.
Ich kramte mein Tagebuch aus dem Rucksack und versuchte, meine Gedanken über die Skulpturen im Musée Rodin in Worte zu fassen. ( Wie können diese kalten Körper so lebendig wirken, als hätte jemand Gefühle in Stein gehauen? ) Im Stehen zu schreiben, war ziemlich kompliziert, ständig rutschte mir die Kladde weg und meine Schrift sah krakelig aus. Ich riss den Zettel heraus und faltete ihn, um ihn bei nächster Gelegenheit freizulassen. Wieder linste Juli mir über die Schulter und ich klappte das Tagebuch eilig zu. Dabei flatterte das Blatt zu Boden. Schnell bückte ich mich und sammelte es ein, bevor
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