Love Train
Briefkasten, zwei Wandnischen gegenüber dem Grab. Rund 5000 Briefe pro Jahr (das stand ebenfalls in einem Prospekt) schicken Ratsuchende aus aller Welt ausgerechnet an eine 13-Jährige, die, wenn man ihr Schicksal bedenkt, vielleicht nicht unbedingt die beste Kummertante für Liebeskranke abgibt.
Ich fasse meinen Besuch in Verona mal so zusammen: Wenn man einen Ort sucht, an dem es romantisch zugeht, dann sollte man um dieses Städtchen besser einen groÃen Bogen machen.
»Und, was schreibst du gerade?« Neugierig beugte sich Juli über meine rote Kladde, die ich vor mich auf den Klapptisch unseres Zugabteils gelegt hatte. Langsam gewöhnte ich mich daran, trotz Wackelei lesbar zu schreiben. Reflexartig zog ich mein Tagebuch ein Stück näher zu mir und legte den Arm davor, um es vor Julis Blick zu schützen, doch als ich mir meiner eigenen Bewegung bewusst wurde, zwang ich mich, meinen Arm wieder wegzunehmen. Ich wollte unseren neuen Waffenstillstand, der mir weniger brüchig erschien als die Male zuvor, nicht durch eine so unbedachte Handlung gefährden.
Seit wir vor zwei Tagen Sofia getroffen hatten, war Juli dauerhaft gut gelaunt, jedoch nicht auf so eine überdrehte Art wie normalerweise, nein, sie machte einfach einen zufriedenen Eindruck, ohne dabei ständig im Achteck hüpfen zu müssen. Und sie lieà mich in Ruhe, mehr noch: Sie war ausgesprochen nett zu mir. Also gab ich mir Mühe, genauso nett zu ihr zu sein.
Juli war sogar, ohne zu murren, mit mir nach Verona gefahren, dabei interessierte sie sich weder für Shakespeare noch für besonders romantische Orte, wie sie sagte. Und sie war nicht die ganze Zeit neben mir hergelaufen und hatte über den Kitsch und den Kommerz in der Stadt der tragischen Liebenden hergezogen, sondern nur gelegentlich geschnauft oder geprustet, aber ansonsten die Klappe gehalten, was ich ihr hoch anrechnen musste, wo doch schon mein eigener Eindruck von Verona so niederschmetternd gewesen war.
Alle diese Ãberlegungen bewirkten in jenem Moment, dass ich, nachdem ich den ersten Reflex, mein Tagebuch zu schützen, niedergerungen hatte, einer spontanen Eingebung folgte und ihr die Kladde zuschob.
»Lies selbst.«
»Echt jetzt?« Sie sah so freudig überrascht aus, dass ich grinsen musste.
»Ja, echt, aber bitte nur diese paar Seiten über Verona. Wobei du die restlichen Einträge ja ohnehin schon kennst.« Ich konnte mir diese kleine Spitze einfach nicht verkneifen, aber gleichzeitig beobachtete ich gespannt, wie Juli das Buch zu sich zog und mit gerunzelter Stirn zu lesen begann.
Sie nickte und grinste, dann lachte sie kurz laut auf und nickte wieder. So ging das eine gefühlte Ewigkeit. Ich wollte mir selbst nur ungern eingestehen, dass ich wie gebannt darauf wartete, dass Juli fertig war, und vor allem darauf, was sie dazu sagen würde.
Seit ihrem ersten Lob betrachtete ich meine eigenen Texte wie mit neuen Augen. Ich schrieb plötzlich nicht mehr nur für mich. Ich meine, eigentlich führte ich natürlich immer noch Tagebuch, und nichts ist persönlicher als ein Tagebuch. Aber ständig fragte ich mich: Ist das jetzt gut? Habe ich das treffend erklärt? Geht es vielleicht noch ein bisschen witziger oder ernster oder gefühlvoller? Es war verrückt, was Julis wenige positive Worte mit meiner Selbstwahrnehmung gemacht hatten.
Obwohl wir seit vorgestern so gut miteinander auskamen, war ich mir nicht sicher, ob es klug war, Juli bereitwillig in meine Seele blicken zu lassen. (Auch wenn es in diesem Text mal ausnahmsweise nicht um meine Gefühle für Joey und meine verwirrenden Gedanken über Felix ging!) Ich war mir keineswegs sicher, ob ich damit umgehen konnte, wenn ich von Juli eine vernichtende Kritik bekäme.
»Und?«, fragte ich etwas atemlos, als meine Schwester die Kladde endlich zuklappte und mir zurückreichte.
»Volltreffer!« Juli schenkte mir ein Verschwörerlächeln. »Genauso hab ich es auch empfunden. Und natürlich ist es wieder richtig klasse.«
Ich stieà erleichtert die Luft aus. Ihr gefiel mein Eintrag.
Und was mich ebenfalls erleichterte: Sie hatte den ganzen Julia-Kult genauso unromantisch gefunden wie ich.
»Das einzig Gute an dieser ganzen Geschichte ist doch, dass die Angebetete den gleichen Namen hat wie ich«, schob Juli hinterher. »Ich kam mir die ganze Zeit so bedeutend vor.« Ich stimmte in ihr Lachen
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