Love you, hate you, miss you: Roman (German Edition)
erinnerte, daran, wie es mal war.
Ich machte einen Bogen um alle Läden, in die wir reingingen, sodass am Ende nur die Papeterie mit den pseudo-kunsthandwerklichen Kitschkarten blieb und das Küchengeschäft. Ich ging in das Küchengeschäft und schlenderte herum, betrachtete die Töpfe und Pfannen und Zwölf-Dollar-Salsa-Gläser. Es war stinklangweilig, trotz der riesigen Süßwarenabteilung ganz hinten im Laden, und nach einer halben Ewigkeit – die mir wie mindestens drei Stunden vorkam – zeigte die ultramoderne, teuer aussehende Uhr, die dort ausgestellt war, dass gerade mal zehn Minuten vergangen waren. Ich ging zum Essigregal weiter, betrachtete die verschiedenen Sorten. Das dauerte drei Minuten, obwohl ich sogar das Etikett auf einer der Flaschen las. (Offenbar muss man Bio-Essig nehmen, um den »reinen, unverfälschten Geschmack« des Essens richtig auszukosten. Also ehrlich.)
Ich hatte mir die Süßwarenecke bis zum Schluss aufgespart, aber es war lauter altmodisches Zeug, so »nach Großmutterart«. Die Auswahl war allerdings riesig und nach einer Weile fand ich etwas mit Schokolade und Marshmallows, das essbar war. Julia hätte gesagt: »Na endlich mal was Richtiges!«
Ich ging den ganzen Stapel zweimal durch, bis ich endlich eine Packung hochnahm, die wie alle anderen aussah, aber ich hatte so lange zum Aussuchen gebraucht, dass geschlagene dreiundzwanzig Minuten vergangen waren, wie ich auf der Uhr sehen konnte.
Dann traf es mich wie ein Keulenschlag: Was in aller Welt sollte ich mit dem Zeug anfangen? Kaufen? Es war doch keine Julia da, mit der ich es teilen konnte, die die Marshmallowschicht herunterpulen und als Erstes essen würde, so wie sie es immer bei S’mores gemacht hatte. Als ich bezahlen wollte, gab die Registrierkasse ihren Geist auf und ich konnte zuschauen, wie eine lange Quittungsschlange in die Luft gespuckt wurde.
Die Kassiererin, die ungefähr im Alter von Julias Mom war und auch ihr wasserstoffblondes Haar hatte, sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Da legte ich die Packung weg und ging hinaus. Ich weiß nicht, warum. Es war nicht, weil ich Angst hatte, dass ich auch zu weinen anfangen würde oder so. Ich … Es tat mir einfach weh, ihr Gesicht zu sehen. Hier zu sein, im Einkaufszentrum, ohne Julia.
Jetzt hätte mir eigentlich jemand aus der Schule über den Weg laufen müssen. Ein großer, dramatischer Moment, wie in den grässlichen Kitschfilmen, die Julia so gern anschaute. Eine Begegnung mit der Schnurbärtigen vielleicht. Wir hätten Blicke miteinander gewechselt, wissende Blicke, weil uns natürlich beiden klar war, dass es nicht normal ist, an einem Werktagnachmittag allein shoppen zu gehen. Und dass nichts darüber hinwegtäuschen kann.
Aber ich traf nicht auf die Schnurrbärtige und auch sonst war niemand zu sehen. Ich ging zu Mom zurück, die in ihr Handy redete, als ich in den Food Court kam,von mir abgewandt, einen Arm auf den Tisch gestützt, den Kopf in der Hand.
So habe ich auch immer gesessen, wenn ich mit Julia geredet habe.
»Ich geb mir ja Mühe«, sagte sie. »Aber es ist schwierig. Sie hat immer noch nichts über ihren Besuch an Julias Grab gesagt. Hat sie vielleicht zu dir …? Nein, ich weiß, du hättest es mir gesagt, natürlich. Ich dachte nur … Ich hatte einfach gehofft, dass … Ja, ich weiß. Aber Colin, es ist so … Auf der ganzen Fahrt hierher hat sie nichts anderes gesagt als ›gut‹. Ich kann fragen, was ich will, es kommt immer dieselbe Antwort, und …«
Mom hätte merken müssen, dass ich hinter ihr stand. Mich atmen hören. Den Schatten sehen, den ich warf. Aber natürlich merkte sie nichts. »Ich kenne sie gar nicht«, fuhr sie fort, »wie kann mir meine eigene Tochter so fremd sein? Warum kann ich nicht …? Nein, Liebling, mir geht’s gut. Wirklich. Ich wünschte nur, dass du und ich …«
An diesem Punkt drehte ich mich um und verließ das Einkaufszentrum. Ich wollte ihre Wünsche nicht hören. Ich konnte mir schon denken, was es war.
Draußen ging ich zur Bushaltestelle und stand neben zwei perfekt geschminkten Frauen mit müden Augen, die von ihren Überstunden redeten und wie man Feuchtigkeitscreme verkauft. Beide sagten mir, dass sie mich um meine Größe beneideten. Ich saß hinter ihnen im Bus und lauschte den ganzen Weg über auf ihre Gespräche,bis zur Umkehrhaltestelle, wo sie ausstiegen. Ich blieb drin, den Kopf ans Fenster gelehnt, und schaute zu, wie der Himmel dunkel
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