Love you, hate you, miss you: Roman (German Edition)
alle fünf Minuten in mein Zimmer kam, um nach mir zu sehen, als wir wieder zu Hause waren – bis ich endlich aufgab und hinunterging. Ich bewegte mich wie in Trance durch den Abend – Hausaufgaben, Abendessen, sagte »Ja, mir geht’s gut«, wenn Mom und Dad fragten, und dann weinte ich die Tränen, die vorher nie fließen wollten, im Bett. Es ging mir hinterher nicht besser.
Aber das hatte ich auch nicht erwartet.
Ich kann nicht schlafen. Ich liege hier seit Stunden und denke über die Szene auf dem Friedhof nach. Über das Gesicht Deiner Mom. Darüber, was sie gesagt hat. Über Dein Grab.
Ich denke an Dich, Julia. Weißt Du noch, wie wir in Aqualand waren? Du hast uns einfach reingeschmuggelt und noch dazu die besten Fahrgeschäfte abgesahnt, ohnedass wir warten mussten. Wir haben Zuckerwatte gekauft und eklige Hotdogs für sieben Dollar gegessen. Und wir haben ein Foto mit dem Seehund Swimmy gemacht. Ich lächle darauf. Du stehst vor mir. Dein Gesicht ist ein verschwommener Fleck, weil Du Dich gerade zu mir umgedreht hast, und die Kamera hat Dich eingefangen, wie du warst – immer in Bewegung. Dein Mund ist leicht geöffnet und Du lehnst dich ein bisschen vor, als wolltest Du den Kopf auf meine Schulter legen.
Hast du auch. Das hast Du immer getan, wenn ich Dich zum Lachen gebracht habe oder wenn jemand anderer Dich traurig gemacht hat.
Daran dachte ich und auch an den Tag, als wir in Deiner Küche Toffee gemacht haben und alle Fenster aufreißen mussten, um den widerlichen Gestank nach verbranntem Zucker loszuwerden. Ich dachte daran, wie oft ich mit Dir im Auto zur Schule gefahren bin und auf dem Boden nach einer der vielen CDs gekramt habe, die Du gebrannt hattest, und egal, was ich einlegte, immer war irgendein dummer Lovesong drauf, den Du Wort für Wort mitsingen konntest. Ich dachte an die unzähligen Male, als ich bei Dir auf dem Bett lag und zuschaute, wie du beim Telefonieren Grimassen geschnitten hast.
Und wie ich an Deine Tür klopfen und so tun musste, als sei ich Deine Mom, wenn es ein Typ war, mit dem Du nicht reden wolltest, und wie wir uns hinterher schiefgelacht haben. Ich dachte daran, wie wir all die Jahre den Flur in der Schule entlanggingen und du mir zugeflüstert hast: »Amy, du hast Modelgröße! Zeig dich, verdammtnoch mal! Ich hab dir nicht mein T-Shirt geliehen, damit du den Hals einziehst und geduckt hier rumschleichst, als ob du was zu verbergen hättest, okay?«
Ich dachte daran, was Laurie mir aufgetragen hatte.
Der Abend, als der Typ mit den fiesen Augen dabei war und mir den Strohrum reingekippt hat. Du hast es gewusst. Das ist mir jetzt klar. Und ich kann – ich kann es auch aussprechen. Du hast es gewusst. Du hast alles gewusst. Hinterher hast Du mir gestanden, dass Du Angst um mich hattest. Ich weiß, was das bedeutet. Im Grund genommen wusste ich es immer. Du wolltest damit sagen, dass es Dir leidtut.
Ich glaube, Laurie würde sagen, dass das etwas zu bedeuten hat. Etwas Großes, wahrscheinlich. Dass es bedeutet, dass Du mir wehgetan hast.
Aber ich seh das anders. Ich glaube, es bedeutet, dass es Dir leidgetan hat.
Kein Mensch hat nur eine Seite, verstehst du? Niemand ist nur gut oder nur schlecht, und was Laurie mir klarmachen will, stimmt schon – Du hast mir wehgetan –, aber es ist nur ein Teil der Wahrheit.
Die Wahrheit ist, dass Du stark und wild und mitreißend warst. Die Wahrheit ist, dass Du dir immer die unmöglichsten Typen gesucht hast. (Und Dein Musikgeschmack war auch nicht besser – Du und Deine kitschigen Lovesongs.) Die Wahrheit ist aber auch, dass Du mir alles von Dir geliehen hast, was ich wollte – selbst wenn es noch ganz neu war –, und dass Du es nie zurückverlangt hast. Ich hab immer noch Dein T-Shirt mit dem blöden Spruch »My Broom is in the Shop« im Schrank.
Ich hab mich nie getraut, es zu tragen, obwohl ich es gern getan hätte. Und Du wusstest das. Ohne dass ich je was gesagt habe, wusstest Du Bescheid und hast mir das Shirt gegeben.
Und die Wahrheit ist, dass Du in der Nacht, als ich meine Flasche in die Hand genommen und den Strohrum in mich reingekippt habe, gewusst hast, was ich trinke. Nur ich wusste es nicht.
Und als mir schlecht wurde – das ist auch die Wahrheit –, als mir die Augen zufielen und ich umkippte, warst Du da. Du hast mich ins Krankenhaus gebracht. Du hast mich nicht allein gelassen. Du warst für mich da.
Ja, es stimmt, Du hast mir nie gesagt, dass ich mit dem Trinken aufhören soll.
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