Love

nicht, wenn er entschlossen war, sich ein letztes Mal einzubringen?
    Sie spürte den Drang, seinen Namen zu rufen, obwohl das bestimmt eine gefährliche Dummheit wäre. Als sie den Mund öffnete, lief ihr Wasser aus den nassen Haaren in die Augen und ließ sie brennen. Sie hörte Chuckie D.s Glocke in einer Brise ganz leise bimmeln.
    Und dann sprach Scott sie an – zum letzten Mal.
    Lisey
    Unendlich zärtlich, diese Stimme. Sie rief ihren Namen, rief sie heim.
    Little
    15 »Lisey«, sagt er. »Babylove.«
    Er sitzt im Schaukelstuhl, und sie hockt auf dem kalten Fußboden, aber er ist derjenige, der vor Kälte zittert. Lisey, die deutlich zu hören glaubt, wie Granny D schisserig und bib bernd bei Nacht sagt, wird mit einem Mal klar, dass er friert, weil die Häkeldecke in Boo'ya-Mond zurückgeblieben ist. Aber das ist noch nicht alles – der ganze verdammte Raum ist kalt. Zuvor war es hier kühl, aber jetzt ist es kalt, und das Licht brennt auch nicht mehr.
    Das gleichmäßige dumpfe Brausen der Ölheizung ist ver stummt, und als sie aus dem Fenster sieht, an dem sich Eis blumen gebildet haben, leuchten draußen nur die zügellos farbigen Nordlichtschleier. Der Halogenscheinwerfer auf dem Lichtmast vor dem Haus der Galloways ist erloschen. Strom ausfall, denkt sie, aber nein … der Fernseher ist weiterhin ein geschaltet, und der verdammte Film läuft noch immer. Die Jungs aus Anarene, Texas, hängen im Billardsalon herum, bald werden sie nach Mexiko runterfahren, und wenn sie zurückkommen, wird Sam der Löwe tot sein, er wird in Gaze gehüllt auf einer der Steinbänke mit Blick auf den Pool sitzen und …
    »Das ist nicht richtig«, sagt Scott. Obwohl seine Zähne leicht klappern, kann sie die Verwirrung in seiner Stimme hören. »Ich hab den gottverdammten Film nie angestellt, weil ich dich nicht wecken wollte, Lisey. Außerdem …«
    Sie weiß, dass er recht hat – als sie diesmal hereingekom men ist und ihn aufgefunden hat, war der Fernseher nicht eingeschaltet –, aber im Augenblick beschäftigt sie etwas weit Wichtigeres. »Scott, wird er uns folgen?«
    »Nein, Baby«, sagt er. »Das kann er nicht, es sei denn, ihm weht eine mächtige Prise von deinem Geruch in die Nase oder er weiß, wo du dich …« Scott bringt den Satz nicht zu Ende.
    Offenbar beschäftigt ihn noch immer der Film. »Außerdem wird in dieser Szene nie ›Jambalaya‹ gesungen. Ich habe mir Die letzte Vorstellung schon fünfzig Mal angesehen, neben Citizen Kane ist er vielleicht der beste Film aller Zeiten, aber in der Szene im Billardsalon wird nie ›Jambalaya‹ gesungen. Der Song ist von Hank Williams, klar, aber er singt ›Kaw-Liga‹, den Song über einen Indianerhäuptling. Und wenn Fernseher und Videorekorder laufen, wo ist dann das ver dammte Licht?«
    Er steht auf und betätigt den Lichtschalter. Ohne Erfolg. Dieser eisige Wintersturm aus Yellowknife hat schließlich ihre Stromversorgung unterbrochen – auch in ganz Castle Rock, am Castle View, in Harlow, Motton, am Tashmore Pond und fast überall im Westen Maines. In dem Augenblick, in dem Scott den nicht funktionierenden Lichtschalter betätigt, geht der Fernseher aus. Das Bild schrumpft zu einem weißen Licht punkt zusammen, der noch kurz leuchtet und dann verschwin det. Wenn Scott die Videokassette das nächste Mal einlegt, wird er feststellen, dass ihr gesamter Mittelteil leer ist, wie von einem starken Magnetfeld gelöscht. Keiner der beiden wird jemals darüber sprechen, aber Scott und Lisey wird bewusst sein, dass es vermutlich Lisey war – obwohl sie sich beide das Gästezimmer vorgestellt haben –, die sie beide mit ihrer größeren Energie heimgerufen hat … und dass es be stimmt Lisey war, die sich vorgestellt hat, Ole Hank würde »Jambalaya« statt »Kaw-Liga« singen. Es war Lisey, die sich so lebhaft vorgestellt hatte, bei ihrer Rückkehr würden Fernseher und Videorekorder laufen, dass die beiden Geräte tatsächlich noch fast eineinhalb Minuten lang liefen , obwohl in der ge samten Castle County längst der Strom ausgefallen war.
    Er heizt den alten Küchenherd mit Eichenscheiten aus der Holzkiste an, und sie bereitet ihnen ein provisorisches Bett – eine Luftmatratze und Steppdecken – auf dem Fußboden. Als sie sich darauf ausstrecken, nimmt er sie in die Arme.
    »Ich fürchte mich davor, einzuschlafen«, gesteht sie ihm. »Ich hab Angst, dass der Ofen aus ist und du wieder verschwun den bist, wenn ich morgen aufwache.«
    Er schüttelt den Kopf.