Love
»Keine Angst, jetzt ist es für eine Weile vorbei.«
Sie betrachtet ihn voller Hoffnung und Zweifel. »Weißt du das bestimmt – oder sagst du das nur, um deine kleine Frau zu beruhigen?«
»Was glaubst du?«
Sie glaubt, dass dies nicht mehr der gespenstische Scott ist, mit dem sie seit November zusammengelebt hat, aber es fällt ihr noch schwer, an solche wundersamen Veränderungen zu glauben. »Dir scheint es besser zu gehen, aber ich misstraue meinen eigenen Wunschträumen.«
Im Herd zerknallt ein Astknoten, und sie fährt zusammen. Er drückt sie enger an sich. Sie kuschelt sich fast grimmig an ihn. Unter den Decken ist es warm; in seinen Armen fühlt sie sich geborgen. Er ist alles, was sie sich jemals in dunklen Nächten gewünscht hat.
Er sagt: »Diese … diese Sache, unter der meine Familie zu leiden hat … sie kommt und geht. Wenn sie vorbei ist, fühlt man sich, als wäre ein Krampf abgeklungen.«
»Aber sie kommt wieder?«
»Lisey, nicht zwangsläufig.« Die Kraft und Zuversicht in seiner Stimme überrascht sie, sodass sie prüfend in sein Ge sicht aufsieht. Sie findet keinerlei Falschheit darin, nicht ein mal von der freundlich gemeinten Art, die eine besorgte Ehe frau beschwichtigen soll. »Und wenn doch, tritt sie vielleicht nie mehr so stark auf wie dieses Mal.«
»Hat dein Vater dir das erzählt?«
»Mein Vater wusste nicht allzu viel über das Weggetreten-sein . Ich habe diesen Drang nach … dem Ort, an dem du mich gefunden hast … schon zweimal verspürt, Lisey. Das erste Mal in dem Jahr, bevor wir uns kennengelernt haben. Da mals haben mir Alkohol und Rockmusik geholfen. Das zweite Mal …
»Deutschland«, sagt sie ausdruckslos.
»Ja«, bestätigt er. »Deutschland. Dort hast du mich gerettet, Lisey.«
»Wie nahe warst du dran, Scott? Wie nahe warst du in Bre men dran?«
»Sehr nahe«, sagt er einfach, und erneut läuft ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Wenn sie ihn in Deutschland ver loren hätte, wäre er endgültig verloren gewesen. Mein Gott! »Aber im Vergleich zu diesem Mal war das in Bremen eine laue Brise. Diesmal war's ein Wirbelsturm.«
Es gibt noch mehr Dinge, die sie ihn fragen will, aber vor allem will sie ihn umarmt halten und ihm glauben, wenn er sagt, dass sie wahrscheinlich nichts mehr zu befürchten ha ben. Wie man seinem Arzt glauben will, vermutet sie, wenn er sagt, dass der Krebs sich zurückgebildet hat und vermutlich nicht wiederkommt.
»Und mit dir ist alles in Ordnung?« Das will sie noch mal von ihm hören. Muss es hören.
»Ja. Alles im grünen Bereich, wie man so schön sagt.«
»Und … er?« Deutlicher braucht sie sich nicht auszudrü cken. Scott weiß, von wem sie redet.
»Er hat meine Witterung schon vor Langem aufgenommen und kennt die Form meiner Gedanken. Nach all diesen Jahren sind wir praktisch alte Freunde. Vermutlich könnte er mich schnappen, wenn er wollte, aber der Bursche ist ziemlich faul. Außerdem … hält irgendetwas seine Hand über mich. Etwas
auf der positiven Seite der Gleichung. Es gibt eine positive Seite, weißt du. Das musst du wissen, denn du gehörst dazu.« »Du hast mir einmal gesagt, du könntest ihn rufen, wenn du wolltest.« Das sagt sie sehr leise.
»Ja.«
»Und manchmal verspürst du den Wunsch danach. Hab ich recht?«
Das streitet er nicht ab, und draußen heult ein langer kalter Windstoß ums Dachgesims. Aber hier unter den Decken vor dem Küchenherd ist es warm. Mit ihm ist es warm.
»Bleib bei mir, Scott«, sagt sie.
»Das werde ich«, sagt er. »Das tue ich, so lange
16 »Das werde ich, so lange ich kann«, sagte Lisey.
Sie erkannte mehrere Dinge gleichzeitig. Erstens, dass sie in ihr Schlafzimmer und ihr Bett zurückgekehrt war. Zweitens, dass sie die Bettwäsche würde wechseln müssen, weil sie trie fend nass zurückgekommen war und an ihren feuchten Füßen Strandsand aus einer anderen Welt klebte. Drittens, dass sie wie Espenlaub zitterte, obwohl es im Schlafzimmer nicht be sonders kalt war. Viertens, dass sie den silbernen Spaten nicht mehr hatte; sie hatte ihn zurückgelassen. Und schließlich, dass sie ihren Ehemann – falls er jene sitzende Gestalt gewesen war – fast sicher zum letzten Mal gesehen hatte; ihr Mann war jetzt einer der Verhüllten, ein unbegrabener Leichnam.
Lisey lag in klatschnassen abgeschnittenen Jeans auf ihrem Bett und brach in Tränen aus. Sie hatte jetzt sehr viel zu tun und war mit einem ziemlich klaren Aktionsplan im Kopf zurückgekommen – sie
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