Love
Essen nach Einbruch der Dunkelheit giftig wurde. Kippte vielleicht auch das Wasser des Pools um? Oder war es denkbar, dass hier wie in den Wäldern gefährliche Ungeheuer aus ihren Verstecken kamen? Pool-Haie sozusagen. Und hatte sie sich dann nicht vielleicht zu weit hinausgewagt, um ans Ufer flüchten zu können, bevor eines davon beschloss, einen Happen von ihr zu kosten?
Hier bist du auf sicherem Boden.
Nur war dies kein Boden; sie stand im Wasser und fühlte den panikartigen Drang, eilig ans Ufer zurückzupaddeln, be vor irgendein Killer-U-Boot mit Zähnen ihr ein Bein abtrenn te. Energisch vertrieb Lisey ihre Angst. Sie war von weit her gekommen, nicht nur einmal, sondern zweimal, ihre Brust tat verdammt weh, und sie würde weiß Gott kriegen, wozu sie hergekommen war.
Sie atmete tief durch, ließ sich dann auf dem sandigen Boden, ohne recht zu wissen, was sie erwarten sollte, langsam auf die Knie sinken, bis das Wasser ihre Brüste bedeckte – die eine, die unverletzt war, und die andere, die schlimm zuge richtet war. Einen Augenblick lang schmerzte ihre linke Brust mehr denn je; sie fürchtete, der Schmerz würde ihr die Schä deldecke wegsprengen! Aber dann
13 Er ruft wieder ihren Namen, laut und erschrocken:
»Lisey!«
Das durchschneidet die verträumte Stille dieses Ortes wie ein brennender Pfeil. Lisey ist kurz davor, sich umzusehen, weil aus diesem Schrei außer Panik auch tiefer Schmerz spricht, aber irgendetwas in ihrem Inneren sagt ihr, dass sie das nicht darf. Will sie überhaupt eine Chance haben, ihn zu retten, darf sie sich nicht umsehen. Sie hat ihren Einsatz gemacht. Sie passiert den Friedhof, fast ohne die im Licht des aufgehenden Mondes glänzenden Kreuze eines Blickes zu würdigen, steigt mit sehr geradem Rücken und stolz erhobenem Kopf und mit Good Mas gelber Häkeldecke weiter hoch in den Armen, damit sie nicht darüber stolpert, die Treppe hinauf und empfindet eine verrückte Euphorie von der Art, wie man sie wohl nur verspürt, wenn man seinen gesamten Besitz – das Haus den Wagen das Bankguthaben den Familienhund – auf einen einzigen Wurf gesetzt hat. Über ihr (und nicht mehr allzu weit entfernt) ragt der große graue Felsen auf, der den Anfang des zum Sweetheart Hill zurückführenden Weges bezeichnet. Der Himmel ist voller fremder Sterne und unbekannter Sternbilder. Irgendwo brennen Nordlichter in langen feurigen Schleiern. Lisey wird sie vielleicht nie wieder sehen, aber das stört sie nicht weiter. Sie lässt die Treppe hinter sich und umrundet den Felsen, ohne im Geringsten zu zögern, und in diesem Augenblick bekommt Scott sie von hinten zu fassen und zieht sie an sich. Noch nie hat sie seinen vertrauten Geruch lieber wahrgenommen. Im selben Augenblick wird ihr bewusst, dass sich links neben ihr etwas bewegt, sich schnell bewegt, nicht auf dem Pfad, der zurück zum Lupinenhügel führt, sondern unmittelbar daneben.
»Pssst, Lisey«, flüstert Scott. Seine Lippen sind so nahe, dass sie ihre Ohrmuschel kitzeln. »Um unser beider Leben wil len musst du still sein.«
Es ist Scotts Long Boy, das weiß sie selbst. Seit Jahren hat sie seine Gegenwart im Hintergrund ihres Lebens wie etwas gespürt, was man manchmal aus den Augenwinkeln heraus in einem Spiegel wahrnimmt. Oder, sagen wir mal, wie ein im Keller verstecktes Geheimnis. Jetzt ist das Geheimnis heraus. In Lücken zwischen den Bäumen links von ihr gleitet ein mächtig angeschwollener Fluss aus Fleisch scheinbar mit Schnellzuggeschwindigkeit dahin. Er ist überwiegend glatt, aber an einzelnen Stellen sind dunkle Flecken oder Krater zu sehen, die Leberflecken oder sogar (das vermutet sie, ohne es zu wollen und ohne sich dagegen wehren zu können) Haut tumore sein könnten. Ihr Verstand beginnt, sich irgendeine Art Riesenwurm vorzustellen, hört aber gleich wieder damit auf. Das Lebewesen dort drüben hinter den Bäumen ist kein Wurm, sondern ein vernunftbegabtes Wesen, denn sie kann es denken fühlen. Seine Gedanken sind nicht menschlich, nicht im Geringsten verständlich, aber gerade in ihrer Fremd heit liegt eine schreckliche Anziehungskraft …
Es ist das Bösmüllige, denkt sie, während Eiseskälte sie bis ins Mark ergreift. Seine Gedanken sind nichts anderes als der Bösmüll.
Diese Vorstellung ist schrecklich, aber auch richtig . Sie presst Lisey einen Laut ab, der halb ein Quieken, halb ein Stöhnen ist. Er ist nicht laut, aber sie sieht oder spürt, dass das Ding seine endlose Fortbewegung im
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