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Love

Love

Titel: Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Schnellzugtempo plötz lich verlangsamt, als hätte es sie gehört.
    Das bemerkt auch Scott. Sein Arm, der sie knapp unterhalb der Brust umschlingt, verstärkt seinen Druck etwas. Seine Lippen bewegen sich wieder an ihrer Ohrmuschel. »Wenn wir nach Hause wollen, müssen wir machen, dass wir wegkom men«, murmelt er. Zu ihrer Erleichterung ist er wieder ganz bei ihr, ganz da. Sie weiß nicht, ob es daran liegt, dass er nicht mehr den Pool vor Augen hat, oder daran, dass er verängstigt ist. Vielleicht an beidem. »Hast du verstanden?«
    Lisey nickt. Sie ist von ihrer eigenen Angst wie gelähmt, und jegliche Freude darüber, Scott zurückzuhaben, ist verflo gen. Hat er sein ganzes Leben lang damit gelebt? Wie hat er das nur ertragen? Aber sogar jetzt, auf dem Höhepunkt ihres Entsetzens, glaubt sie, die Antwort darauf zu wissen. Zwei Dinge haben ihm Bodenhaftung verliehen und ihn vor dem Long Boy gerettet. Das Schreiben ist eines davon. Das andere hat eine Taille, um die er die Arme legen, und ein Ohr, in das er flüstern kann.
    »Konzentrier dich, Lisey. Sofort! Streng dein Gehirn an.«
    Sie schließt die Augen und sieht das Gästezimmer ihres Hauses auf dem Sugar Top Hill. Sieht Scott in Good Mas gelbe Häkeldecke gehüllt in dem Schaukelstuhl sitzen. Sieht sich neben ihm auf dem kalten Fußboden hocken und seine Hand halten. Hinter ihnen leuchten die Eisblumen an den Fensterscheiben in sich fantastisch wandelndem Licht. Der Fernseher läuft und zeigt wieder einmal Die letzte Vorstel lung. Die Jungs sind in dem schwarz-weißen Billardsalon von Sam dem Löwen, und Hank Williams singt in der Jukebox »Jambalaya«.
    Sekundenlang fühlt sie Boo'ya-Mond flimmern, aber dann wird die Musik in ihrem Kopf – Musik, die für einen Augen blick so deutlich und unbekümmert geklungen hat – leiser und verhallt. Lisey öffnet die Augen. Sie sehnt sich verzwei felt danach, das vertraute Gästezimmer zu sehen, aber der große graue Felsen und der durch die Sweetheart-Bäume füh rende Pfad sind weiterhin da. Über ihr leuchten weiter die fremdartigen Sterne, nur sind die Lacher jetzt verstummt, das ebenso scharfe Rascheln des Unterholzes, und sogar Chuckie
    D.s Glocke hat aufgehört, ungleichmäßig zu bimmeln, weil der Long Boy angehalten hat, um zu lauschen, und die ganze Welt scheint den Atem anzuhalten, um seinem Beispiel zu folgen. Er ist dort drüben, keine fünfzehn Meter links von ihnen; Lisey kann ihn jetzt tatsächlich riechen. Er stinkt wie alte Fürze in den Klos von Autobahnraststätten, wie der Pesthauch aus Bourbon und Zigaretten, der einem manchmal entgegenschlägt, wenn man die Tür eines billigen Motelzimmers öffnet, oder Good Mas verpisste Windeln, als sie alt und delirierend senil war. Er hat hinter der nächsten Reihe Sweet-heart-Bäume angehalten, er hat sein verstecktes Dahingleiten durch die Wälder eingestellt, und, o Gott, sie verschwinden nicht, sie kehren nicht heim, sie sitzen aus irgendeinem Grund hier fest.
    Scotts Flüstern ist jetzt so leise, dass er kaum zu sprechen scheint. Wäre nicht die schwache Bewegung seiner Lippen an der empfindlichen Haut ihrer Ohrmuschel, könnte sie fast glauben, sie würden sich telepathisch verständigen. »Es ist die Häkeldecke, Lisey – manchmal kommen Dinge in eine Rich tung mit, aber nicht in Gegenrichtung. Ich weiß nicht, wes halb, aber so ist es nun mal. Ich spüre sie wie einen Anker. Lass die Decke fallen.«
    Lisey öffnet die Arme, lässt die Häkeldecke fallen. Das Ge räusch, das sie macht, ist kaum lauter als der zarteste Seufzer (als ob Argumente gegen das Irresein mit sanftem Rascheln in den letzten Keller fielen), aber der Long Boy hört es. Sie fühlt, wie seine umherschweifenden rätselhaften Gedanken ihre Richtung ändern; spürt den abscheulichen Druck seiner geisteskranken Aufmerksamkeit. Einer der Bäume knackt ex plosionsartig, als das gewaltige Ding dort drüben umzukeh ren beginnt, und sie schließt wieder die Augen und sieht das Gästezimmer so deutlich, wie sie jemals etwas in ihrem Leben gesehen hat, sieht es mit verzweifelter Intensität und durch ein perfektes Vergrößerungsglas aus Angst und Entsetzen.
    »Los!«, flüstert Scott, und dann passiert etwas Erstaunli ches. Sie spürt, wie die Luft sich gewissermaßen von innen nach außen stülpt. Plötzlich singt Hank Williams »Jamba laya«. Er singt, weil
    14 Er sang, weil der Fernseher eingeschaltet war. Daran konnte sie sich jetzt so unfehlbar deutlich erinnern, dass sie sich

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