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Love

Love

Titel: Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Leute angeblich nicht können – bis sie dann merken, was sie alles können, wenn’s hart auf hart geht«, sagt Daddy. Er blickt auf seine Füße hinunter, die ganz rosig sind und wie roh aussehen. »Schaffst du’s bis in die Burg, dürfte ein Junge, der clever genug war, um Mr. Halsey mit einer Geschichte über die Lou-Gehrig-Krankheit und mei ne nicht vorhandene Schwester abzuwimmeln, auch auf die Idee kommen, im Telefonbuch unter J wie Jugendamt nachzuschlagen. Oder wenn du’s schaffst, nicht ausgeraubt zu werden, könntest du ein bisschen rumsuchen und vielleicht eine noch bessere Lösung finden. Siebenhundert, die zeh nerweise ausgegeben werden, müssten einem Jungen ziemlich lange rei chen, wenn er clever genug ist, sich nicht von den Cops schnappen zu las sen, und ein bisschen Glück hat, damit ihm nie mehr als das Geld geraubt wird, das er gerade in der Tasche hat.«
    Ich sage noch mal: »Ich kann nicht weggehen.«
    »Warum nicht?«
    Aber ich kann’s nicht erklären. Teilweise hängt es damit zusammen, dass ich fast mein ganzes bisheriges Leben in diesem Farmhaus verbracht habe – und fast nur mit Daddy und Paul. Mein Wissen über die Außenwelt stammt hauptsächlich aus drei Quellen: dem Fernsehen, dem Radio und meiner Fantasie. Ja, ich bin im Kino gewesen, ich war ein halbes Dutzend Mal in der Burg, aber immer mit meinem Vater und meinem größeren Bruder. Bei der Vorstellung, allein in diese dröhnend lärmende Fremde hinausgehen zu müssen, wird mir angst und bange. Und was noch wichtiger ist, ich liebe ihn. Nicht auf die schlichte und unkomplizierte Weise (zumindest bis zu den letzten Wochen), wie ich Paul geliebt habe, aber ja, ich liebe ihn. Er hat mich geschnitten und mich geschlagen und mich Scheißer und Dummie und lahmarschiger Drecksack genannt, er hat mich an vielen Tagen meiner Kindheit terrorisiert und mich an vielen Abenden mit dem Gefühl ins Bett geschickt, klein und dumm und wertlos zu sein, aber diese schlimmen Zeiten haben mir ihre eigenen perversen Kostbarkeiten geschenkt: Sie haben jeden Kuss in Gold verwandelt, jedes seiner Komplimente, selbst die beiläufigsten, in etwas Unvergessliches. Und schon mit zehn Jahren – vielleicht weil ich sein Sohn, von seinem Blut bin? – weiß ich, dass seine Küsse und Komplimente stets aufrichtig sind; sie sind stets wahr. Er ist ein Ungeheuer, aber das Ungeheuer kann auch lieben. Das war das Entsetzliche an meinem Vater, Lisey: Er hat seine Söhne geliebt.
    »Ich kann einfach nicht«, sage ich.
    Er denkt darüber nach – ob er mich bedrängen soll oder nicht, vermu te ich – und nickt dann nur noch einmal. »Also gut. Aber eins will ich dir sagen, Scott. Was ich deinem Bruder angetan habe, habe ich getan, um dir das Leben zu retten. Weißt du das?«
    »Ja, Daddy.«
    »Aber wenn ich dir was antäte, wär’s anders. Es wäre so schlimm, dass ich dafür in die Hölle kommen könnte, auch wenn etwas in meinem Inne ren mich dazu gezwungen hätte.« Dabei wendet er den Blick von mir ab, und ich weiß, dass er wieder sie sieht, sie , und dass es bald nicht mehr er sein wird, mit dem ich rede. Dann blickt er mich wieder an, und ich sehe ihn zum letzten Mal deutlich. »Du lässt nicht zu, dass ich in die Hölle komme, oder?«, fragt er. »Du würdest deinen Daddy nicht in die Hölle kommen und für immer und ewig braten lassen, auch wenn ich manchmal böse zu dir gewesen bin?«
    »Nein, Daddy«, sage ich und kann kaum sprechen.
    »Versprichst du’s? Beim Namen deines Bruders?«
    »Bei Pauls Namen.«
    Er sieht weg, weicht meinem Blick aus. »Ich leg mich wieder hin«, sagt er. »Mach dir was zu essen, wenn du willst, aber sieh zu, dass du in der verschmickten Küche keinen Saustall hinterlässt.«
    In dieser Nacht wache ich auf – oder irgendetwas weckt mich – und höre es draußen stärker als je zuvor graupeln. Ich höre einen Krach hinter dem Haus und weiß, dass dort ein Baum unter der Eislast abgeknickt ist. Vielleicht hat mich ein weiterer umstürzender Baum geweckt, aber das glaube ich nicht. Ich denke, dass ich ihn auf der Treppe gehört habe, obwohl er versucht, leise zu sein. Mir bleibt keine Zeit mehr, irgendwas zu tun, außer aus dem Bett zu schlüpfen und mich darunter zu verstecken, also tue ich das, obwohl ich weiß, dass das aussichtslos ist, denn kleine Jungen verstecken sich immer unter dem Bett, und dort wird er als Erstes nachsehen.
    Ich sehe seine Füße zur Tür hereinkommen. Er ist weiter barfuß. Er sagt kein einziges

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