Love
aufgehoben haben (oder einfach vergessen), denn jetzt rieche ich ihn, das steht eindeutig fest, ich rieche ihn ganz deutlich. Bis ich unten an der Treppe angelangt bin, ist daraus ein richtiger Gestank geworden, und nun höre ich außer dem stetigen Prasseln von Graupelkörnern an der Bretterverkleidung und ihrem helleren Ping! an den Fensterscheiben noch etwas anderes: George Jones. Das ist Daddys Radio, wie immer auf WWVA eingestellt, das ganz leise läuft. Und ich höre ein Schnarchen. Meine Erleichterung ist so groß, dass mir Tränen übers Gesicht laufen. Am meisten habe ich mich davor gefürchtet, er könnte irgendwo versteckt darauf lauern, dass ich mich zeige. Als ich jetzt auf diese langen, holpe rig röchelnden Schnarchlaute horche, weiß ich, dass er das nicht tut.
Trotzdem bleibe ich vorsichtig. Ich mache einen Umweg durchs Ess zimmer, damit ich das Wohnzimmer hinter dem Sofa betreten kann. Auch das Esszimmer ist verwüstet. Omis Büfett ist umgestürzt, und ich sehe, dass er sich mit ziemlichem Erfolg bemüht hat, Kleinholz daraus zu machen. Alles Geschirr ist zerschlagen. Auch den blauen Krug hat’s er wischt; das Geld, das er enthalten hat, ist zerfetzt worden. Grüne Papier schnipsel sind im ganzen Raum verteilt. Ein paar hängen sogar wie Silvesterkonfetti an der Deckenlampe. Für Geld hat das Ding in Daddy offenbar nicht mehr Verwendung als für Bücher.
Trotz dieser Schnarchlaute und obwohl ich hinter der Sofalehne nicht zu sehen bin, spähe ich ins Wohnzimmer, wie ein Soldat nach Artillerie sperrfeuer über den Rand seines Schützenlochs blickt. Diese Vorsichts maßnahme ist überflüssig. Sein Kopf hängt über ein Ende des Sofas, und seine Haare, die er sich seit der Zeit, bevor Paul übergeschnappt ist, nicht mehr geschnitten hat, sind so lang, dass sie fast den Teppich berüh ren. Ich hätte dort mit Pauken und Trompeten durchmarschieren können, ohne dass er sich gerührt hätte. Daddy ist nicht einfach in den Trümmern des verwüsteten Wohnzimmers eingeschlafen; er ist verschmickt noch mal bewusstlos .
Ein kleines Stück weiter, dann erkenne ich, dass er auf einer Wange eine Schnittwunde hat, und die geschlossenen Augen sehen purpurrot, erschöpft aus. Seine Lippen sind von den Zähnen zurückgezogen, sodass er an einen alten Hund erinnert, der knurrend eingeschlafen ist. Zum Schutz vor Fettflecken und verschütteten Getränken liegt auf dem Sofa eine alte Navajodecke, die er sich teilweise übergelegt hat. Als er hier reingekom men ist, muss er den Spaß am Verwüsten verloren haben, denn er hat ge rade noch das Auge des Fernsehers eingeschlagen und das Glas vor dem Atelierporträt seiner toten Frau zertrümmert, bevor er vorläufig aufgehört hat. Das Radio steht an seinem gewohnten Platz auf dem Beistelltisch chen und davor die Korbflasche. Ich betrachte sie und kann kaum glauben, was ich sehe: von der Gallone sind höchstens noch zwei Fingerbreit übrig. Dass er so viel getrunken haben soll, ist mir fast unbegreiflich – er, der überhaupt keinen Alkohol gewohnt ist –, aber dieser Gestank, so dick, dass ich ihn fast sehen kann, wirkt sehr überzeugend.
Die Spitzhacke lehnt am Kopfende des Sofas. An dem Ende, das durch mein Bett gekracht ist, hängt ein Zettel. Ich weiß, dass diese Mitteilung für mich bestimmt ist, und will sie nicht lesen, aber das muss ich. Er hat in drei Zeilen nur acht Wörter geschrieben. Zu wenige, als dass man sie je vergessen könnte.
TÖTE MIC H DANN LEG MICH ZU PAU L BITT E
19 Lisey, die inzwischen lauter schluchzte als je zuvor, legte dieses Blatt zu den anderen auf ihrem Schoß. Jetzt wa ren nur noch zwei übrig. Die Schrift war krakelig geworden, die Buchstaben wechselten die Größe und gingen immer öfter über die Zeile hinaus, offensichtlich war er müde. Sie wusste,
was als Nächstes kommen würde – Ich hab ihm mit einer Spitzhacke den Schädel eingeschlagen, als er geschlafen hat,
hatte Scott ihr unter dem Lecker-Baum erzählt –, aber würde sie hier alle Einzelheiten lesen müssen? Verpflichtete ihr Ehe versprechen sie dazu, dass sie das Geständnis ihres toten Ehe mannes, ein Vatermörder zu sein, über sich ergehen ließ?
Und trotzdem riefen diese Seiten sie, flehten sie an wie irgendein einsames Wesen, das alles verloren hat bis auf seine Stimme. Sie sah auf die letzten Seiten hinab und war ent schlossen, den Rest, wenn sie ihn denn schon lesen musste, so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
2O Ich will es nicht tun,
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