Lovesong
fing ich sofort an zu heulen. Dann fing ich an zu schreien, wir müssten es zu einem Tierarzt bringen, aber es war ja längst tot. Ich wollte nicht, dass sie es mitnahmen. Stattdessen zwang ich sie dazu, es im Wald zu vergraben. Als mein Dad davon Wind bekam, erklärte er mir, dass es das Ziel beim Jagen wäre, das Tier zum eigenen Überleben zu töten, ob wir es nun aufaßen oder ihm das Fell abzogen oder dergleichen. Sonst verschwendete man nur das Leben des Tieres. Aber ich glaube, ihm war damals schon klar, dass ich nicht zum Jagen taugte, denn als ich zwölf wurde, bekam ich kein Gewehr; stattdessen schenkte er mir eine Gitarre.«
»Das hast du mir noch nie erzählt«, meinte Mia.
»Na, ich schätze, ich wollte meine Glaubwürdigkeit als Punkrocker nicht aufs Spiel setzen.«
»Ich hätte eigentlich erwartet, dass sie dadurch nur bestätigt wird«, erwiderte sie.
»Nö. Aber ich bin ja im Grunde auch Emocore, also passt das schon.«
Eine zärtliche Stille hing zwischen uns dort in dem Zelt. Von draußen konnte ich den leisen Ruf einer Eule hören, der durch die Nacht hallte. Mia stieß mich in die Rippen. »Du bist so ein Weichei!«
»Und das sagt ausgerechnet das Mädchen, das Angst vorm Zelten hat!«
Sie kicherte. Ich zog sie näher, denn ich wollte jegliche Distanz, die zwischen uns lag, überwinden. Ich schob ihr das Haar aus dem Nacken und vergrub mein Gesicht darin. »Jetzt schuldest du mir aber eine peinliche Geschichte aus deiner Kindheit«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
»All die peinlichen Geschichten sind noch in vollem Gange«, meinte sie.
»Es muss doch eine geben, die ich noch nicht kenne.«
Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Schmetterlinge.«
»Schmetterlinge?«
»Ich hatte immer furchtbare Angst vor Schmetterlingen.«
»Was hast du bloß für ein Problem mit der Natur?«
Sie schüttelte sich vor Lachen. »Ich weiß«, kicherte sie. »Es gibt ja kaum eine friedlichere Kreatur als einen Schmetterling. Die leben ja eh nur höchstens zwei Wochen. Aber ich bin jedes Mal ausgetickt, wenn ich einem begegnet bin. Meine Eltern haben echt alles unternommen, um mir das auszutreiben: Sie haben mir Bücher über Schmetterlinge besorgt, sie haben mir Klamotten mit Schmetterlingen drauf gekauft, sie haben Poster von Schmetterlingen in mein Zimmer gehängt. Aber alles umsonst.«
»Bist du denn mal von einem Schwarm Schmetterlinge angegriffen worden?«, erkundigte ich mich.
»Nein«, meinte sie. »Gran hatte da eine Theorie, was meine Phobie anbelangte. Sie meinte, es läge daran, dass ich eines Tages auch eine Metamorphose würde durchmachen müssen, wie eine Raupe, die sich in einen Schmetterling verwandelt, und das machte mir Angst, und deshalb fürchtete ich mich so vor Schmetterlingen.«
»Das klingt ganz nach deiner Gran. Und wie hast du diese Angst dann bewältigt?«
»Ich weiß es nicht. Ich hab einfach irgendwann beschlossen, keine Angst mehr zu haben, und eines Tages war es dann weg.«
»So tun, als ob, und irgendwann wird es Normalität, klar.«
»Ja, irgendwie so.«
»Das könntest du doch auch mit dem Campen versuchen.«
»Muss ich das unbedingt?«
»Nö, aber ich bin echt froh, dass du mitgekommen bist.«
Sie hatte sich mir zugewandt. Es war stockfinster in dem Zelt, doch ihre Augen konnte ich leuchten sehen. »Ich auch. Aber müssen wir denn jetzt schlafen? Können wir nicht noch eine Weile so liegen?«
»Die ganze Nacht lang, wenn du das willst. Und dann flüstern wir uns im Dunkeln unsere Geheimnisse zu.«
»Okay.«
»Dann verrat mir doch noch eine von deinen irrationalen Ängsten.«
Mia packte mich an beiden Armen und drängte sich ganz dicht an meine Brust, so als wollte sie ihren Körper in meinem vergraben. »Ich habe Angst, dich zu verlieren«, sagte sie mit schwacher Stimme.
Ich schob sie von mir, sodass ich ihr Gesicht sehen konnte, und küsste sie auf die Stirn. »Ich hab doch gesagt: irrationale Ängste. Denn das wird niemals passieren.«
»Trotzdem macht es mir Angst«, meinte sie leise. Dann aber zählte sie ein paar Dinge auf, die ihr Furcht einflößten, und ich tat dasselbe, und wir flüsterten und erzählten uns Geschichten aus unserer Kindheit, bis tief in die Nacht hinein, so lange, bis Mia endlich vergaß, dass sie Angst hatte, und einschlief.
Ein paar Wochen später schon wurde es merklich kälter, und es war in diesem Winter, das mit Mias Unfall. Also war das letzten Endes das letzte Mal, dass ich campen ging. Doch selbst wenn es nicht so
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