Lovesong
dem Spiel als bei normalen Konzerten, sogar mehr als bei Stadionshows – bei Festivals sind wesentlich mehr Leute, aber vor allem sind unter den Zuschauern auch Musikerkollegen. Heute Abend aber bin ich vollkommen ruhig. Ich habe alles aufs Spiel gesetzt. Nun habe ich nichts mehr zu verlieren. Vielleicht habe ich es aber auch längst verloren und wiedergefunden, und was auch immer ich sonst noch zu verlieren habe, hat nichts mit dem zu tun, was auf dieser Bühne geschieht. Und das erklärt vielleicht auch, dass ich hier oben riesigen Spaß habe, die neuen Songs auf meiner alten Les Paul Junior locker runterspiele, der Gitarre, die ein weiteres Stück verlorener Geschichte darstellt. Liz musste zweimal hinsehen, als ich sie aus dem Koffer hervorholte. »Ich dachte, du wärst das Ding längst los«, meinte sie.
»Ja, dachte ich auch«, hatte ich erwidert. Ich warf Mia ein verschwörerisches Lächeln zu.
Wir jagen durch das neue Album und streuen dann ein paar Leckerbissen von Collateral Damage dazwischen, und ehe ich es mich versehe, sind wir schon fast am Ende unseres Sets angekommen. Ich werfe einen Blick auf die Setlist, die vor mir auf dem Boden der Bühne mit Tesa festgeklebt ist. Dort hat Liz in Blockschrift den Titel des letzten Songs vor der unumgänglichen Zugabe hingekritzelt. »Animate«. Unsere Hymne, so hat unser früherer Produzent Gus Allen den Song immer genannt. Der existenziellste, angstvollste Song auf dem ganzen Collateral-Damage -Album, wie die Kritiker einhellig verkündeten. Vielleicht der größte Hit, den wir je geschrieben haben. Absoluter Publikumsliebling bei allen Touren, wegen des Refrains, bei dem die Leute gern mitsingen.
Er ist eigentlich auch einer der wenigen Songs, bei dem wir so was wie eine Produktion gemacht haben, mit einem Streicherpart, der direkt über die anderen Spuren gelegt wurde, obwohl wir bei der Liveversion keine Violinen dabeihaben. Als wir also loslegen, höre ich nicht das aufgeregte Jaulen und Grölen der Menge, sondern Mias Cellospiel in meinem Kopf. Eine Sekunde lang stelle ich mir vor, wie es wäre, wir beide anonym in irgendeinem Hotelzimmer, wie wir ein bisschen rumprobieren, sie auf dem Cello, ich auf der Gitarre, und wie wir dann diesen Song spielen, den ich für sie geschrieben habe. Und verdammt, ja, dieser Gedanke macht mich wirklich unheimlich glücklich.
Ich gebe alles, als ich den Song jetzt singe. Dann sind wir beim Refrain angekommen: Hass mich. Zerstör mich. Vernichte mich. Erweck mich. Erweck mich. Willst du, willst du, willst du mich nicht wiedererwecken?
Auf dem Album wird der Refrain unzählige Male wiederholt, ein wütendes Brüllen, voller Schmerz ob eines Verlustes, und es ist schon zur Tradition geworden, dass ich bei Liveshows irgendwann aufhöre zu singen, das Mikro in Richtung Publikum halte und die Fans weitermachen lasse. Also richte ich das Mikro jetzt nach dort unten in die Menge, die in der Sekunde total durchdreht, meinen Song singt und meine flehenden Worte im Chor mitgrölt.
Ich lasse sie machen und gehe selbst ein bisschen auf der Bühne spazieren. Der Rest der Band kriegt mit, was sich da tut, also spielen sie einfach stur den Refrain weiter. Als ich mich dem seitlichen Bühnenrand nähere, sehe ich sie plötzlich da stehen, dort, wo sie sich immer schon am wohlsten gefühlt hat. In absehbarer Zukunft wird sie wohl zu denjenigen gehören, die hier draußen im Rampenlicht stehen, und ich werde derjenige sein, der von der Seite aus zusieht, und ich habe das Gefühl, dass es gut ist so.
Das Publikum singt weiter, gibt alles, und ich schrammle kurz und gehe weiter, bis ich nah genug bin, um ihre Augen erkennen zu können. Und dann fange ich wieder an, den Refrain zu singen. Und dabei sehe ich sie an. Und sie lächelt zurück, sodass es mir fast so vorkommt, als wären wir die einzigen Menschen hier, zumindest die einzigen, die wissen, was los ist. Nämlich dass der Song, den wir alle zusammen singen, in diesem Augenblick neu geschrieben wird. Kein wütendes Flehen mehr, das man hinausschreit ins Nichts. Genau hier, auf dieser Bühne, vor achtzigtausend Menschen, wird dieser Song zu etwas anderem.
Zu einem neuen Versprechen zwischen uns.
Danksagung
Normalerweise dankt man als Autorin an dieser Stelle ja den Lektoren und Agenten separat. Wenn ich allerdings auf meine Karriere als Schriftstellerin zurückblicke, dann sehe ich mich immer genau zwischen meiner Lektorin Julie Strauss-Gabel und meiner Agentin Sarah Burnes.
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