Luc - Fesseln der Vergangenheit
achtundvierzig Stunden ein ernsthafter Gegner für Hamid und Kalil sein, aber das würden sie früh genug merken.
Auf dem Weg zurück zu dem Kissenlager fiel sein Blick auf die Nische, in der die Wasserschüsseln standen. Unterhalb des gemauerten Vorsprungs befand sich ein Haufen, der überwiegend aus Sand und Staub zu bestehen schien. Vielleicht hatte jemand den Boden notdürftig gefegt und vergessen, den Abfall hinauszuschaffen. Mit dem Fuß schob er den Haufen auseinander und entdeckte eine Tonscherbe, die fast so lang wie sein kleiner Finger war. Prüfend fuhr er den gezackten Rand entlang. Seine Hoffnung bestätigte sich, der glasierte Ton war extrem scharf. Er bedachte die roten Striemen an seinen Handgelenken mit einem grimmigen Blick. Diesmal würde er vorbereitet sein. Nach kurzem Überlegen versteckte er die Scherbe in seiner Jeans, wo sie dank der flachen Form bei einer oberflächlichen Durchsuchung nicht auffallen würde. Perfekt.
Vermutlich befolgte er besser Jasmins Rat und mied die Mittagshitze. Am frühen Abend würde er feststellen, ob er sich tatsächlich ungehindert bewegen konnte oder die Brüder andere Vorstellungen hatten. Eigentlich brannte er darauf, aus dem Haus zu kommen, und Warten hatte nie zu seinen Stärken gehört, aber er spürte bereits die lähmende Müdigkeit, die mittlerweile sein ständiger Begleiter war. Er trank das restliche Wasser und suchte sich auf den Kissen eine möglichst bequeme Position. Neben seinen naheliegenden Problemen verfolgte ihn die Frage, wovor Jasmin davonlief. Sie hatte eindeutig ihre eigenen Dämonen, die sie beschäftigten. Aber auch das würde warten müssen. Es wäre wohl zu einfach gewesen, wenn er eine Frau wie sie in Kalifornien getroffen hätte. Aber er würde herausfinden, was sie vor ihm verbarg und vor allem, was zwischen ihnen war.
Etwas kitzelte an seiner Nase. Widerwillig öffnete Luc die Augen und wäre fast hochgefahren. Mondlicht tauchte das Innere des Hauses in ein silbernes Licht. Jasmin lag an ihn gekuschelt neben ihm, eine ihrer blonden Strähnen hatte sich über sein Gesicht gelegt und ihn geweckt. Er musste endlos lange geschlafen und damit viele Stunden verschwendet haben. Vorsichtig stand er auf, nahm sich einen Fladen Brot, den er neben den Kissen entdeckte, und verließ nach einem letzten prüfenden Blick auf seine schlafende Mitbewohnerin das Haus.
Der wolkenlose Himmel war tiefschwarz, aber der Mond und zahlreiche Sterne spendeten genügend Licht. Abschätzend musterte Luc die Silhouette der Berge. Leider fand er keinen markanten Gipfel oder sonstigen Anhaltspunkt, der ihm einen Hinweis darauf gab, wo er sich befand. Wenn er die Informationen über die Dauer von Warzais Reise nach Pakistan zu Grunde legte, vermutlich irgendwo östlich von Mazar el-Sharif. Das wäre nicht gut, denn in dem Bereich waren überwiegend deutsche Soldaten im Einsatz, die in Einzelfällen von amerikanischen Spezialeinheiten unterstützt wurden. Da die Deutschen eher zurückhaltend agierten, waren seine Chancen, auf eine Patrouille zu stoßen, minimal. Obwohl er niemanden sah, hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Das Licht reichte nicht aus, um Sicherheit zu erhalten, praktisch in jedem Hausschatten konnte sich ein Dorfbewohner verbergen.
Bewusst offen schlenderte Luc Richtung Berge und verschaffte sich in kürzester Zeit einen Überblick über das Dorf. Direkt vor dem Haus, in dem Jasmin schlief, befand sich eine Art Platz. Daneben gab es nur eine Straße, die in einem Bogen zurück zur eigentlichen Zufahrt zum Dorf führte. Einige Häuser lagen direkt an der Piste, andere ein Stück abseits. Die Wege waren mit niedrigen Steinmauern eingefasst. Als Luc wieder seinen Startpunkt erreicht hatte, staunte er über die Größe des Dorfes. Insgesamt mochten rund zweihundert Menschen hier leben. Alles machte einen ordentlichen und durchdachten Eindruck. Gegen die Hausmauer gelehnt, atmete Luc langsam und gleichmäßig, bis sich sein auffallend schneller Puls wieder beruhigt hatte. Es gefiel ihm überhaupt nicht, nach einer kurzen Wanderung bereits dermaßen außer Atem zu sein. Die Temperaturen lagen deutlich unter zwanzig Grad, trotzdem war er schweißbedeckt und fröstelte in der klaren Nachtluft. Das Überleben in dieser unwirtlichen Landschaft würde schwer werden, aber da es keine Alternative gab, musste er es schaffen.
Wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, mündete die Zufahrtsstraße zum Dorf in eine der Hauptpisten. Auf ihr wäre er
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