Luc - Fesseln der Vergangenheit
ein Problem bekommen.« Kalil stieß kurz hintereinander zwei schrille Pfiffe aus.
Wenige Meter vor ihnen, aber auch wesentlich weiter unten flammten für einen Sekundenbruchteil Taschenlampen auf. Mindestens vier Männer nutzten die Deckung der Felsen, um so gut wie unsichtbar über die Zufahrtsstraße zu dem Dorf zu wachen. Luc hätte eher mit einem oder zwei offen positionierten Männern gerechnet, nicht mit dieser professionellen Absicherung. »Warum erzählst du mir das alles?«
»Damit du weißt, worauf du dich einlässt. Du hast beschissene Karten in der Hand und das weißt du. Was schadet es, die Karten etwas gerechter zu verteilen? Deine Chancen sind immer noch verschwindend gering.«
»Schon mal über einen Job als Motivationstrainer nachgedacht?«
»Klar, aber dafür besteht hier kaum Bedarf, da kann ich auch bei meinem derzeitigen Job bleiben.«
Die ebenso freche wie spontane Antwort brachte Luc zum Lachen. Obwohl sie Gegner waren und sich vielleicht in naher Zukunft mit der Waffe in der Hand gegenüberstanden, mochte er Kalil. »Ich hätte nicht gedacht, dass euer Dorf so groß ist.«
»Das liegt an der Lage und vor allem an meinem Bruder. Er kümmert sich um seine Leute, das bedeutet, dass sich hier mehr Leute ansiedeln wollen, als wir erlauben können.« Kalil deutete auf die Berge jenseits des Dorfes. »Auf Satellitenbildern siehst du praktisch nichts von uns. Die Abhänge sind die ideale Deckung. Lass uns zurückgehen. Du zitterst schon vor Kälte.«
Luc widersprach nicht. Als sie das Haus erreichten, in dem er untergebracht war, schüttelte Kalil den Kopf. »Komm mit.« Drei Häuser weiter zeigte er auf eine steinerne Bank. »Warte.«
Während Kalil in dem Haus verschwand, fragte Luc sich, warum er den Anweisungen, die wie Bitten klangen, überhaupt folgte. Nachdenklich setzte er sich auf die Bank und betrachtete den Mond. Noch zwei Tage und die Scheibe wäre vollständig rund. Vielleicht war das ein Zeichen. Seine Mutter hatte ihm oft genug erzählt, dass er zwei Wochen vor dem geplanten Termin in einer Vollmondnacht auf die Welt gekommen war.
Kalil kehrte mit zwei Schüsseln und einigen Kleidungsstücken zurück und legte die Sachen neben Luc auf die Bank. »Eine Dusche kann ich dir im Moment nicht anbieten. Aber Wasser, ein Handtuch, ein paar Sachen von mir. Außerdem vermute ich, dass du noch kein Abendessen hattest. Ich habe jedenfalls Hunger. Bediene dich.«
Statt zuzugreifen, schüttelte Luc erneut den Kopf. »Warum tust du das?«
Kalil schob ihm die Schüssel mit dem Wasser zu. »Die Frage müsste doch eigentlich lauten, warum ich das nicht tun sollte. Was ist das schon? Früher wäre es selbstverständlich gewesen, sich gegenseitig zu helfen. Dass Warzai dich als seinen Gefangenen betrachtet, setzt uns gewisse Grenzen, aber niemand zwingt uns, dich so zu behandeln, wie er es getan hat. Genauso wenig, wie euch jemand zwingt, Menschen in orangefarbene Overalls zu stecken und in Ketten zu legen, um sie dann in offenen Käfigen zu halten. Die Welt können wir nicht ändern, nur unsere eigenen Normen im Kleinen anwenden.«
Der ruhige Ernst, mit dem der junge Mann das aussprach, was exakt Lucs eigener Überzeugung entsprach, berührte ihn stärker, als er zuzugeben bereit war. Tief durchatmend riss er sich sein zerfetztes T-Shirt herunter und wusch sich, so gut es ging. Als er nach dem Handtuch griff, zögerte er. »Viele von uns finden nicht richtig, was in Guantanamo läuft. Du wirst leider auch bei uns Menschen wie Warzai treffen, aber eben auch andere.«
»Das hat unser Vater auch immer gesagt, aber das hilft uns nicht weiter, solange die falschen Männer an den Hebeln der Macht sitzen. Sieh dir an, was Hamid für seine Leute tut, und dann sieh nach Kabul und frag dich, wohin die Milliarden von Euro und Dollars verschwinden, die zum Aufbau des Landes gedacht sind. Jedenfalls kommen sie nicht dort an, wo sie gebraucht werden. Siehst du die Fläche dahinten?«
Luc folgte dem ausgestreckten Zeigefinger und nickte, ehe er sich erst das T-Shirt, dann ein Sweatshirt überstreifte. »Danke für die Klamotten.«
Kalil winkte ab. »Bis vor einem Jahr haben wir dort Mohn angebaut. Es ging nicht anders, weil wir Geld brauchten. Jetzt können wir es uns leisten, das Land brachliegen zu lassen. Die Kinder nutzen es als Fußballplatz. Eine eindeutig bessere Alternative.«
»Das klingt, als ob ihr Heilige wärt.«
Statt beleidigt zu reagieren, lachte Kalil. »Aber nein. Wir haben das nicht
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