Luc - Fesseln der Vergangenheit
einfacher vorangekommen, doch das wäre aufgrund der zahlreichen Straßensperren durch örtliche Taliban reiner Selbstmord gewesen. Andererseits konnte er den Checkpunkten vielleicht ausweichen – sofern er sie rechtzeitig bemerkte.
Das Gefühl, nicht alleine zu sein, verstärkte sich. Luc stieß sich von der Mauer ab und ging bergab. Nach ungefähr zweihundert Metern stieß er auf eine scharfe Rechtskurve, dahinter wand die Straße sich in Serpentinen den Berg hinab und weiter unten konnte er die Umrisse einer breiteren Piste erahnen. Das wäre sein Ziel.
Sein Blick schweifte in die Ferne zu einer weiteren, wesentlich flacheren Bergkette. Dahinter befand sich vermutlich schon die wüstenähnliche Ebene, die sich bis nach Mazar el-Sharif zog. Dort gab es kaum noch Möglichkeiten, sich zu verbergen. Ein einzelner Wanderer war genauso gut zu erkennen wie ein Fahrzeug. Daher blieben ihm nur wenige Stunden, um außer Reichweite von Warzai zu gelangen. Selbst in körperlicher Bestform wäre das ein ehrgeiziges Unterfangen gewesen, auch wenn ein einzelner Mann wesentlich schwerer zu entdecken war als ein Fahrzeug. Aber zumindest hatte er jetzt eine ziemlich genaue Vorstellung, was ihn erwartete.
Luc drehte sich um und war nicht überrascht, dass wenige Meter hinter ihm ein Mann stand. Ohne zu zögern, ging er auf den Unbekannten zu, nach einigen Schritten erkannte er die schlaksige Gestalt und das jungenhafte Gesicht. Kalil. Bis auf die Pistole, die er wie Luc sonst auch am Oberschenkel trug, schien er nicht bewaffnet zu sein, und mit Jeans und Sweatshirt war er westlich gekleidet. Das war ein weiterer Punkt, der Luc erstaunte. Statt der landestypischen weiten Hosen und Hemden trugen die Kazim-Brüder Sachen, die er und seine Männer auch verwendeten. Auch die Art der Bewaffnung war ungewöhnlich. Statt der allgegenwärtigen Gewehre vom Typ AK -47, die als Statussymbol galten, beschränkten die Brüder sich auf Pistolen und hoben sich die Gewehre anscheinend für andere Gelegenheiten auf. Das deutete auf eine ungewöhnliche Strategie und Disziplin hin. Während Warzais Taktik darin bestand, sich auf seine Überzahl und seine Grausamkeit zu verlassen, war Luc sicher, dass die Brüder wesentlich durchdachter vorgingen. Das machte sie noch gefährlicher und schwerer einschätzbar.
»Genug gesehen?« Kalil klang eher amüsiert als verärgert.
Als Antwort zuckte Luc lediglich mit den Schultern.
»Komm mit, dann erkläre ich dir, worauf du dich einlässt.«
Ohne seine Zustimmung abzuwarten, ging Kalil den Weg zurück, den Luc gerade gekommen war. Ratlos, aber vor allem neugierig folgte er ihm.
Direkt hinter der Kurve blieb Kalil stehen und deutete den Berg hinab. »Die Piste da unten wirst du wohl kaum übersehen haben. Rechts führt sie tiefer in die Berge. Die nächste Siedlung ist mit dem Wagen einen halben Tag entfernt und eigentlich ist sie im Moment nicht befahrbar. Aber Jasmin hat uns gerade das Gegenteil bewiesen.«
Luc atmete scharf ein. »Das ist … « Er schluckte den naheliegenden Kommentar hinunter, um Kalil nicht durch eine Herabsetzung der Frau zu beleidigen, die er als Schwester betrachtete. » … leichtsinnig.«
Stumm musterte Kalil ihn, ehe er minimal den Mund verzog. »Wir haben für ihr Verhalten andere Bezeichnungen gefunden. Sie testet den Willen Allahs wieder und wieder. Irgendwann wird er seine schützende Hand nicht mehr über sie halten. Aber genug davon. Links führt die Straße zwar dahin, wo du hinwillst, aber du kämst nicht weit. Überall sind Straßensperren, eigentlich eher gut getarnte Hinterhalte, mit denen benachbarte Dörfer ihr Einkommen aufbessern, weil sie dich ohne entsprechende Zahlung nicht weiterfahren lassen. Du hättest keine Chance. Dass hinter uns die Berge liegen, brauche ich dir nicht zu sagen. Damit bleibt nur ein Weg, aber darauf kommst du auch selbst.«
Automatisch blickte Luc auf die Bergkette hinter der Piste. Der direkte Weg dort hinüber wäre seine erste Wahl gewesen.
Kalil musterte ihn wieder und nickte schließlich. »Sollte es einem Mann gelingen, sich strikt Richtung Norden zu halten, würde er auf eine andere, von Truppen genutzte Piste stoßen. Die Straßensperren dort wären für dich kein Hindernis. Allerdings müsstest du zuerst den Berg unbemerkt hinunterkommen. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass wir unser Dorf unbewacht lassen? Es liegt strategisch perfekt und lässt sich spielend leicht absichern. Wenn du weitergegangen wärst, hättest du
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