Luc - Fesseln der Vergangenheit
das Tuch vom Kopf. »Du brauchst das hier nicht. So wie du unsere Lebensweise akzeptierst, wird keiner dich für deine kritisieren. Wir werden Tee trinken und reden. Unser Dorf ist für die nächsten Stunden kein Ort für dich.«
Die ruhige Ankündigung warf etliche Fragen auf, aber Jasmin beschränkte sich auf eine. »Ist Warzai dort?« Hamids stummes Nicken bestätigte ihre Befürchtungen. Warzai war ebenfalls Anführer eines Dorfes, allerdings im Gegensatz zu Hamid für seine Grausamkeit und extreme Auslegung des Korans berüchtigt. Eine Steinigung wäre noch ein harmloser Tod für eine Frau aus dem Westen, die alleine in den Bergen herumfuhr. Im Gegensatz zu Warzai, für den ein Menschenleben nichts zählte und der das Leben seiner Anhänger blind aufs Spiel setzte, wenn es seinem Vorteil diente, lag Hamid das Wohl seiner Leute am Herzen. Die westlichen Militärs machten keinen Unterschied zwischen den Talibanführern, für sie waren die Männer einfach Terroristen, die es zu bekämpfen galt. Doch Jasmin wusste es besser: Der Unterschied zwischen Warzai und Hamid war genauso groß wie der zwischen einem Serienkiller und Mutter Teresa. »Wieso bist du dann hier?«
»Weil mein Bruder und meine Frau sich zusammengetan haben. Beide waren der Meinung, dass ich dich rechtzeitig abfangen sollte. Rein zufällig ist damit dann auch sichergestellt, dass Warzai und ich nicht aufeinandertreffen. Ewig wird sich die fällige Auseinandersetzung nicht vermeiden lassen, aber dieses Mal habe ich den beiden ihren Willen gelassen.«
Ein scharfer Stich in der Magengegend durchfuhr Jasmin, als sie begriff, dass Hamid ihretwegen das Dorf seinem Bruder Kalil überlassen hatte. Diese selbstlose Geste war typisch für ihn, aber eigentlich wollte sie so etwas nicht. Ihr schlechtes Gewissen ihm gegenüber nahm bedrohliche Ausmaße an. Er wusste doch gar nicht, wer sie in Wirklichkeit war, und dennoch verhielt er sich so. Erneut begannen ihre Mundwinkel zu zittern. Fahrig fuhr sie sich mit der Hand über die Augen. Was war nur mit ihr los? Solche Sentimentalitäten konnte und wollte sie sich nicht leisten. Wenn sie sich zu sehr auf die Beziehung zu Hamid und Kalil einließ, brachte sie nur alle in Gefahr. Es wäre ein Alptraum, wenn ihre Verfolger sie in Hamids Dorf fanden. Sie würden keine Zeugen zurücklassen. Dennoch legte sie Hamid eine Hand auf den Arm. »Ich danke dir, mein Bruder.«
Seine Augen leuchteten bei der formellen Anrede auf. Er hatte sie mit einer Teezeremonie als Familienmitglied aufgenommen, nachdem sie seinen Sohn von einer lebensgefährlichen Krankheit geheilt hatte. Bisher waren sie zwar freundschaftlich miteinander umgegangen, aber dennoch hatte sie immer einen Teil von sich zurückgehalten. Sie nahm sich fest vor, ihm zukünftig offener zu begegnen. Auch sie brauchte ein Mindestmaß an menschlicher Nähe, und es gab keinen Grund, Hamid und seine Familie auf Distanz zu halten. Außerdem hatte das bisher sowieso nicht besonders gut geklappt.
»Ich habe übrigens die perfekte Lösung für deinen letzten Streit mit Alima gefunden.«
»Wir haben uns nicht gestritten, meine Frau hatte nur kurzzeitig vergessen, wem sie Gehorsam schuldet.« Sein Grinsen stand im völligen Widerspruch zu seinen Worten und sie musste einfach zurücklächeln.
»Wie immer du es auch nennst … Sekunde. Ich suche es, während du dich um den Tee kümmerst.«
Er murmelte zwar etwas von Weiberkram, holte aber bereitwillig die Zutaten aus seinem Wagen. Minuten später hatte er Wasser auf einem Gaskocher erhitzt und getrocknete Blätter in die Kanne geworfen. Neugierig blickte er auf das eingewickelte Päckchen in ihrer Hand. Jasmin imitierte einen Tusch und reichte es ihm. »Bassam wollte unbedingt einen Hubschrauber, also soll er auch einen bekommen.« Als Hamid die Stirn runzelte, sprach sie schnell weiter. »Ich kann dich ja verstehen, deshalb gibt es auch keinen Kampfhubschrauber. Sieh es dir an, ehe ich es deinem Sohn gebe.«
Hamid lachte leise, als er das bunte Papier vorsichtig auseinanderzog »Deine Weisheit wird nur von deiner Schönheit übertroffen.«
»Ich denke drüber nach, ob das eine Beleidigung war, großer Bruder.« Trotz ihrer scherzhaften Worte konnte sie ihre Zufriedenheit nicht verbergen. Bassam hatte sich mit der ganzen Energie und dem Charme seiner vier Jahre einen Hubschrauber zum Spielen gewünscht. Aus naheliegenden Gründen waren die Kampfhubschrauber der internationalen Truppen eine ständige Gefahr für Hamids
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