Luc - Fesseln der Vergangenheit
undeutlich, sie nahm lediglich einen gewissen Unmut wahr, aber keinen Hinweis, worauf er sich bezog. Nach einigen Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, teilte sich die Menge erneut und Hamid öffnete mit ausdrucksloser Miene die Beifahrertür. Nichts erinnerte mehr an den Mann, mit dem sie entspannt geredet und gelacht hatte. »Es wird dir nicht gefallen, aber bitte tu für ihn, was du kannst.«
Stumm folgte sie ihm und verfluchte sich im nächsten Moment. Statt ihres Gewehres hätte sie ihren Arztkoffer gebraucht. Von Warzai und seinen Männern war nur noch eine ferne Staubwolke zu sehen, aber vor ihr lag ein offensichtlich schwer verletzter Mann auf dem Boden. »Verdammt, ich brauche … «
»Hier ist er.« Unbemerkt war Kalil, Hamids jüngerer Bruder, zu ihr getreten, und im Gegensatz zu ihr hatte er gewusst, was sie erwartete und benötigte.
»Danke.« Sie nahm den Koffer und warf ihm stattdessen ihr Gewehr zu. Ohne den Blick von der reglosen Gestalt abzuwenden, hockte sie sich hin. Der Puls war schwach, aber regelmäßig, Atmung kaum spürbar. Die aufgerissenen Lippen und die graue Gesichtsfarbe wiesen auf starke Dehydrierung hin, dazu eine verschorfte Kopfwunde und wer wusste schon, was sich noch unter dem zerfetzten T-Shirt verbarg. Erst auf dem zweiten Blick bemerkte sie, dass Hände und Füße des Mannes mit groben Stricken gefesselt waren. »Kalil?«
Ohne weitere Aufforderung reichte er ihr ein Messer. Wie immer, wenn sie sich im Dorf aufhielt, übernahm er problemlos die Rolle ihres Assistenten. Vorsichtig durchtrennte sie die Fesseln und atmete scharf ein, als sie die roten Striemen darunter entdeckte. Wenn sich die entzündeten, wurde es lebensgefährlich. Er musste sich höllisch gewehrt haben. »Das muss warten. Er braucht Flüssigkeit, und ich muss ihn auf innere Verletzungen untersuchen. Wer ist er? Was ist mit ihm passiert?«
»Wir bringen ihn in das Haus dort drüben. Das steht leer, seitdem sein Besitzer in die Stadt gezogen ist. Den Rest bereden wir später.«
»Nicht bewegen, ehe ich ihn untersucht und ihm eine Infusion verpasst habe.«
Kalil verzog den Mund. »Wenn er die Fahrt hierher überlebt hat, werden ihn die paar Meter auch nicht umbringen.«
»Stimmt, aber hier draußen habe ich besseres Licht. Bis ihr für ausreichende Beleuchtung gesorgt habt, vergeht viel zu viel Zeit.«
Der Körper des Mannes war mit Prellungen übersät, aber bis auf eine oder zwei möglicherweise gebrochene Rippen konnte sie keine ernsthaften Verletzungen feststellen. Aufatmend nahm sie sich Zeit, den Mann zu betrachten. Trotz der Dehydrierung war eine tiefe Sonnenbräune zu erkennen und er war körperlich in Bestform. Ihre tastenden Hände waren auf feste Muskeln und kein Gramm Fett gestoßen. Die Staubschicht konnte nicht verbergen, dass seine Haare normalerweise schwarz waren. Dennoch wirkte seine Gesichtsform eher europäisch als nahöstlich. Und er sah trotz der ausgezehrten Züge und der Prellungen im Wangenbereich wirklich verdammt gut aus, nicht wie einer dieser Schönlinge, die neuerdings in Hollywood Karriere machten, sondern männlich markant. Der dunkle Bartschatten gab ihm außerdem etwas Verwegenes.
Mit gerunzelter Stirn schob Jasmin die abwegigen Gedanken zur Seite. Sein Aussehen war für sie persönlich und ihre Untersuchung völlig irrelevant. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern erst über seinen Kiefer, dann über die Wangen und atmete erneut auf. Geprellt, aber eindeutig nicht gebrochen. Schade, dass er bewusstlos war, vielleicht hätte ihr die Augenfarbe mehr Aufschluss über seine Herkunft gegeben. Als ob er ihre Gedanken gehört hatte, öffneten sich seine Lider flatternd. Sein Blick irrte ziellos umher, bis er sie direkt ansah. Unwillkürlich hielt sie die Luft an. Strahlend blau, die gleiche Farbe wie der Himmel über den Bergen. Er kniff die Augen zusammen und hustete schwach. Dann brachte er es fertig, eine Hand zu heben und an ihre Wange zu legen. »Jamila.« Seine Hand fiel kraftlos herab und seine Augen schlossen sich wieder.
Jasmin sprach fließend Dari und Paschtu, aber das Wort kannte sie nicht. Ratlos wandte sie sich an Kalil und stellte fest, dass er sich auf die Lippe biss. »Was ist denn?«
»Geschmack hat er.«
»Was meinst du?«
»Jamila ist ein arabischer Name und bedeutet ›die Schöne‹.«
Hinter ihr erklang leises Hüsteln. »Oh verdammt.« Sie kannte die Mentalität der Männer nur zu gut, den Namen würde sie nie wieder loswerden. »Seine
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