Luc t'a pan - Teil 1 (German Edition)
Außenseiterin. Wie ihr gesamtes bisheriges Leben auch.
Lyns Handflächen auf der Glasscheibe erwärmten sich. Die Sonne spitzelte hinter der Wolkendecke hervor und zauberte einen Regenbogen in den Himmel, den Lyn nicht einmal erahnen konnte. Ihr Sehvermögen beschränkte sich auf einen Radius von weniger als einem Meter, innerhalb dessen sie die Welt verschwommen wahrnahm. Alles darüber hinaus verschwand im Nebel. Früher besaß sie wenigstens noch die Farben, aber ein Sommertag in ihrer Kindheit ließ sie verblassen. Einzig die Erinnerungen begleiteten sie seither.
Erinnerungen an eine Zeit, in der das Wort Hoffnung noch eine Bedeutung für sie hatte. Als es sie an die Hand nahm und neben ihr herging.
Zumindest für eine Weile ...
... überkam Lyn das Gefühl, dass alles stimmte. Endlich alles passte. Eine Erfahrung, die sie mit absoluter Klarheit erlebte.
Marshall Jenkins hat mich beschützt. Der Junge mit den seltsamen Augen. Der Junge, den sie deshalb alle die Krähe nennen. Und vor dem sie Angst haben.
Lyn zog ihren Finger aus Marshalls Hand und legte stattdessen die ganze Hand hinein. Die Wärme, die von dieser Berührung ausging, wanderte durch ihren gesamten Körper.
Bis in ihr Herz, das voller Dankbarkeit aufgeregt klopfte. Sie kannte bereits die Unterschiede in ihren Empfindungen, die nicht nur mit Wut, Enttäuschung oder Freude zu tun hatten. Gewiss, dabei handelte es sich lediglich um Nuancen, aber spürbar, vor allem für ein Mädchen wie Lyn, das durch ihre körperlichen Einschränkungen andere Möglichkeiten entwickelt musste, ihre Umwelt wahrzunehmen.
Aber dieses Gefühl war vertrauter.
Tiefer.
Älter.
Im selben Moment, als ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss, wusste sie, dass es nicht ihr eigener war. Trotzdem beunruhigte sie dieses Wissen nicht. Ganz im Gegenteil. Es verstärkte ihren Glauben daran, dass jetzt endlich alles anders werden könnte.
Gut werden könnte.
Sie presste ihre Hand noch fester in Marshalls und begleitete ihn in Richtung Bach, den sie bereits roch, obwohl der Geschmack ihres eigenen Erbrochenen nach wie vor in ihrer Kehle brannte. Schließlich erreichten sie die mit Sträuchern und Brennnesseln verwachsene Böschung und bahnten sich ihren Weg zum einen Meter dahinter liegenden Ufer, das angeschwemmte Steine, Holzreste und kleinere Felsbrocken bedeckte. Als Marshall ihre Hand losließ, spürte sie für einen Augenblick einen Stich in ihrem Herzen, und die Angst drohte zurückzukehren. Doch als Lyn bemerkte, wie Marshall neben sie hinkniete und verschwommen sah, wie er ihre Brille ins Wasser hielt, um sie von ihrem Mageninhalt zu säubern, fühlte sie sich wieder in Sicherheit. Vor Dankbarkeit legte sie ihm die Hand auf die Schulter. Dabei zuckte Marshall zusammen.
Dann ging alles sehr schnell.
Zu schnell für Lyn.
Sie konnte die Geschehnisse lediglich bruchstückhaft erahnen und versuchen, sie in den richtigen Zusammenhang zu bringen.
Marshall ließ die Brille fallen, die wahrscheinlich sofort von der Strömung erfasst wurde, denn schon in der nächsten Sekunde hechtete er mit samt den Schuhen ins Wasser. Dabei musste er ausgerutscht oder gestolpert sein. Auf jeden Fall verschwand er von einem Moment auf den anderen aus ihrem Blickfeld und eine Fontäne durchnässte sie von oben bis unten.
Die Kälte des Bachwassers traf Lyn wie ein Schlag und fegte sie von den Beinen.
Sie reduzierte Lyns Wahrnehmung auf einen einzigen Punkt, der sich in ihrem Herzen zu befinden schien. Dort spürte sie dieses eigentümliche Vibrieren, das sie nur zu gut kannte. Es setzte immer dann ein, wenn die Mauern der Stille um sie herum sich in etwas anderes verwandelten. Unaufhaltsam auf sie niederstürzten, bis die Vibrationen ihren gesamten Leib gefangen hielten und erst wieder aus ihrem Griff entließen, als ihr Bewusstsein sich in einer Komposition aus Bildern in ihrem Herzen entlud und darauf davongetragen wurde.
Diesmal war es anders.
Lyn schwebte nicht davon. Im Gegenteil. Sie richtete sich auf. Ihr Körper kitzelte, wie ihr angefeuchteter Finger, wenn sie ihn über den Rand eines halb mit Wasser gefüllten Weinglases rieb und sich vorzustellen versuchte, was die anderen dabei hörten. So hatte sie es zumindest gelesen.
Doch in diesem Moment verkörperte sie dieses Weinglas. WAR SIE DIESE MELODIE.
Sie führte Lyn zu der Stelle, an der Marshall regungslos im Wasser lag. Legte ihre Arme unter seine Achselhöhlen. Gab ihr die Kraft, ihn aus
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