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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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sich meine Augen an das schwache Licht in der Hütte gewöhnt hatten, entdeckte ich weitere Einzelheiten: einen kleinen Haufen zerlesener Bücher in der Ecke, einen Kerzenstummel in einer leeren Krebsschale, Büschel getrockneter Kräuter, ein Notizbuch mit Stift neben dem Bett und an der Wand ein verblichenes Foto in einem kleinen Holzrahmen. Ich stand auf, um es mir genauer anzuschauen. Es zeigte eine schöne junge Frau, die mit gekreuzten Beinen in einem sparsam möblierten Raum auf dem Fußboden saß. Sie war schlank, ungefähr zwanzig Jahre alt und hatte hochgegelte blonde Stachelhaare, traurige Augen und blassrote Lippen. Sie trug ein einfaches weißes Baumwollkleid, das von kleinen Bändern, Lederstreifen und Perlen durchwirkt war, dazu blutrote Doc Martens. Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkte unnahbar.
    Draußen hörte ich Schritte und drehte mich von der Wand weg. Lucas trat ein, gefolgt von Deefer, der hinter ihm hergetrabt kam. Lucas hatte frische Sachen angezogen und seine Haare trockengerieben. Einen Moment schaute er auf das Foto an der Wand, dann sah er mich an.
    »Sie ist schön«, sagte ich. »Ist das deine Freundin?«
    Er lachte. »Nein, nicht wirklich.«
    Er kniete sich neben den rußigen Stein am Eingang der Hütte und machte Feuer. Mit flinken Händen nahm er Anmachhölzervon einem Haufen an der Wand, dann fügte er dünne Zweige und ein paar Scheite hinzu und errichtete einen hübschen kleinen Scheiterhaufen auf dem Stein. Während er arbeitete, entdeckte ich eine weißliche Narbe innen an seinem linken Handgelenk – eine schwach hervortretende Linie von der Größe und Form eines schmalen Lächelns. Sie wirkte schon alt. Wie ein Teil von ihm.
    »Das ist meine Mutter«, erklärte er und nickte in die Richtung des Fotos an der Wand. »Es wurde vor ungefähr fünfzehn Jahren aufgenommen.« Er machte sein Feuerzeug an und hielt die Flamme unten ans Holz. Ein kleines Rauchwölkchen stieg auf, das Anmachholz knisterte und blasse Flammen züngelten an den Zweigen empor. Lucas beobachtete eine Weile die Flammen und überzeugte sich, dass sie zündeten, dann packte er sein Feuerzeug wieder ein und stand auf. Noch einmal schaute er das Foto an. Sein Gesicht war ausdruckslos. Ich betrachtete das Bild der jungen Frau. Auf einmal sah ich die Ähnlichkeit. Die verborgene Traurigkeit, die Unnahbarkeit, die Fähigkeit, woanders zu sein . . .
    »Wo ist sie jetzt?«, fragte ich.
    »Ich weiß nicht«, antwortete er und schaute weg. »Ich denke, sie ist wahrscheinlich tot.«
    »Du weißt es nicht?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nie gekannt. Als ich auf die Welt kam, konnte sie sich nicht um mich kümmern . . . sie hatte eine Menge persönliche Probleme. Es ging ihr nicht gut.« Er strich sich mit den Fingern durchs Haar und sah mich an. »Fühlst du dich wohl? Ich habe irgendwo einen Pullover, wenn dir noch kalt ist.«
    »Nein, mir geht’s bestens.«
    Ich wollte ihn noch mehr über seine Mutter fragen, aber ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Stattdessen zog ich meinen Hut und das Regencape aus und wärmte mich am Feuer. Es brannte jetzt angenehm. Der Rauch trieb nach oben, verschwand durch eine Öffnung im Dach und hinterließ einen süßen Geruch nach Holzasche.
    »Meine Mutter ist tot«, erzählte ich ihm, was mich selbst überraschte. »Sie starb, als ich fünf war.«
    Lucas nickte. »Das muss hart gewesen sein.«
    »Nicht wirklich. Jedenfalls nicht für mich. Ich war zu jung, um es zu verstehen. Ich erinnere mich kaum mehr an damals. Ich weiß nur noch, dass sie plötzlich nicht mehr da war . . . am einen Tag war sie es noch, am nächsten Tag war sie auf einmal fort. Ich denke, wenn du fünf bist, ist es leichter, Dinge zu akzeptieren, die du nicht verstehst. Du bist das gewohnt. Du verstehst ja die meisten Dinge nicht. Aber für Dad war es unglaublich hart . . . er ist nie wirklich drüber hinweggekommen. Ich glaube, er gibt sich immer noch die Schuld.«
    »Was ist passiert?«
    Ich setzte mich hin. »Sie kamen von einer Party in London, wo sie die Veröffentlichung seines ersten Buchs gefeiert hatten. Es war spätnachts und die Straßen vereist. Dad hatte getrunken, deshalb fuhr Mum . . . Ich hab nie den Mut gehabt zu fragen, ob sie auch getrunken hatte, aber nach allem, was ich von ihr weiß, glaube ich, dass es so war. Sie trank genauso gern wie Dad.« Ich schaute zu Boden. In meinen Augen spürte ich Tränen brennen. Ich hatte noch nie jemandem davon erzählt und wusste nicht, warum

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