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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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du, was mit den Männern auf dem Boot hier passiert ist?«
    »Wahrscheinlich ertrunken.«
    Er nickte nachdenklich und blickte am Wrack vorbei hinüber zu den Tiefen des Schlicks. »Sie sind alle da unten, nicht wahr?«, sagte er ruhig. »Die Fischer, die Austern . . . sie sind jetzt alle das Gleiche . . .« Seine Worte verloren sich, während er immer noch ziellos auf das Watt starrte, und einen Moment war alles still. Die Luft ganz still. Nichts bewegte sich. Kein Vogel, kein Wind, keine Wellen. Ich schaute Lucas an. Ich sah seine Haut, seine Kleidung, sein Haar, seinen Körper, seine blassblauen Augen, sein trauriges Lächeln, seine flüchtige Gegenwart . . . und dann rührte sich die Luft wieder. Ein leiser Wind strich über das Watt, kräuselte die Lachen aus Oberflächenwasser und legte unzählige winzige Muscheln frei, mit denen der Schlick gesprenkelt war. Rosaund weiß wie winzige lackierte Fingernägel glitzerten sie im Nachmittagslicht.
    Ich zitterte.
    Auf einmal wurde es kalt.
    Lucas kehrte aus seiner Trance zurück. »Komm, lass uns zusehen, dass wir hier rauskommen.«
    »Du zuerst«, sagte ich.
    »Jetzt kommt nichts mehr. Der Rest ist ganz sicher. Schau.« Er zeigte auf Deefer, der im Schlamm herumlief, einen Batzen Seetang in seinem Maul hielt und ihn hin und her schüttelte. »Ab hier ist alles nur noch fester Grund.«
    Ich schaute zum Wald. Wir waren näher dran, als ich erwartet hatte. Zwanzig Meter entfernt ging das Watt in einen schmalen Strand aus dunklem bewachsenem Sand über und dahinter stand eine Reihe verkümmerter Bäume, die uns mit ihren missgebildeten Fingern heranwinkten.
    »Keine Angst«, grinste Lucas. »Es ist schöner, als es aussieht.«
    Das will ich hoffen, dachte ich, als wir durch den Schlick wateten. Langsam wurde ich die Kälte, die Nässe und die Verworrenheit des Ganzen ein wenig leid. Ich konnte ein bisschen Schönheit gebrauchen.
     
    Ich begreife, dass es verrückt war, was ich tat. Jemandem, den ich kaum kannte, völlig allein mitten in einen abgelegenen Wald zu folgen, ohne Chance zu fliehen und ohne dass jemand wusste, wo ich war . . . Gott, ich war so unglaublich dumm. Es bedeutete einfach, das Schicksal herauszufordern. Heute weiß ich das. Aber damals schien es mir völlig in Ordnung.Und es war auch in Ordnung. Nein, es war mehr als in Ordnung, es war wunderschön. Abgesehen von dem kleinen Zwischenfall bei dem Boot, als Lucas eine Weile in Trance versunken zu sein schien, hatte ich mich noch nie in meinem Leben entspannter gefühlt. Und das nach einem Tag, an dem mir ins Gesicht gespuckt worden war, an dem ich gedemütigt und in Angst versetzt wurde, an dem mich die Wut gepackt hatte, an dem ich nass geworden war bis auf die Knochen und nun halb erfror, an einem Tag, an dem meine Gefühle Achterbahn fuhren.
    Ja, es war verrückt, was ich tat. Aber wir müssen doch alle oft genug verrückt sein, oder etwa nicht?
     
    Regen tropfte sanft von den Bäumen, als ich Lucas auf einem sonnengesprenkelten Pfad durch den Wald folgte. Obwohl die Luft und die Pflanzen um uns herum von Feuchtigkeit getränkt schienen, war der Boden erstaunlich trocken. Er hatte etwas Weiches, Federndes, war von einem Teppich aus wächsernen Blättern bedeckt und roch nach fruchtbarer schwarzer Erde. Die Luft war schwer und still. Von nahem waren die Bäume gar nicht so unheimlich, wie sie zuerst gewirkt hatten – auch wenn sie immer noch etwas sehr Merkwürdiges an sich hatten. Ich weiß ziemlich gut über Bäume Bescheid, ich kenne die meisten bekannten Arten, aber die hier waren mir neu. Einige waren klein und gedrungen, mit unterentwickelten Ästen, die direkt aus dem Stamm wuchsen, während andere peitschenartig und verwachsen wirkten oder bleich und kahl, so als ob die Rinde von einem ausgehungerten wilden Tier abgefressen worden wäre.
    Wir liefen den schmalen Weg im Gänsemarsch. Lucas ging voran, er bewegte sich mit dem stillen Vertrauen eines Menschen, der genau weiß, wohin. Deefer rannte umher und beschnupperte alles in Sichtweite und ich trottete einfach in ehrfürchtigem Schweigen hinterher. Noch nie war ich an einem so seltsam schönen Ort gewesen. Es war so ruhig, so still. Ich hatte das Gefühl, es war der einsamste Ort der Welt.
    Durch das verschlungene Unterholz erhaschte ich gelegentlich einen Blick auf das Wasser am anderen Ende des Waldes. Gegen das Dunkel der dichten Vegetation leuchtete das Blau der Mündung wie Saphir. Ich erinnerte mich, wie Bill erzählt hatte, sie

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