Lucian
oder weglaufen – oder mit in die Kneipe gehen und so tun, als wäre nichts. Ich entschied mich für Letzteres. Selbst wenn ich eine blöde Ausrede erfand, würde Janne sofort Verdacht schöpfen, wenn sie Lucian in der Bar entdeckte. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht da war und dass die blonde Tussi heute ihren freien Tag hatte.
Sie stand hinter dem Tresen, und als ich hinter Spatz und Janne in die Kneipe kam, starrte sie mich mit unverhohlener Feindseligkeit an.
Ich wich ihrem Blick aus, versteckte mich hinter der Karte und ließ Spatz bestellen und zu meiner großen Erleichterung sprach mich die Blonde nicht an.
Ich nahm eine Cola, Janne wollte Tee und Spatz ein Ratsherren. Während ich stoisch weiter die Speisekarte studierte, musterte Janne amüsiert die Einrichtung. Zum ersten Mal seit Tagen kam sie mir wieder halbwegs normal vor. Sie und Spatz lästerten ein bisschen
über Spatz’ neuen Vermieter, während ich verzweifelt versuchte, mich auf das Bauernfrühstück mit Gewürzgurke oder das Labskaus mit Spiegelei zu konzentrieren.
Immer wieder schielte ich nervös zur Tür, aber als Lucian meinem entsetzten Blick begegnete, stand er schon mitten im Lokal. Hinter ihm, direkt an der Tür, waren zwei nebeneinanderstehende Tische besetzt. Eine Gruppe von jungen Leuten prostete sich lachend zu, offenbar Studenten, die gerade eine bestandene Prüfung feierten.
Lucian sah zum Tresen, dann wieder zu mir, und als er Janne entdeckte, zuckte er zusammen. Meine Mutter, die mit dem Gesicht zum Fenster saß, machte gerade eine Bemerkung über eine goldlackierte Büste an der Wand, der jemand eine aus zwei Bierdeckeln gebastelte Sonnenbrille aufgesetzt hatte. Dann drehte sie sich in Richtung Tür.
Im selben Moment legte sich ein entschlossener, tief konzentrierter Ausdruck auf Lucians Gesicht. Sein Blick war fest auf die Bar gerichtet. Er lächelte der Blonden zu, aber irgendwie hatte diese Geste etwas Zielgerichtetes, als wäre die Bar ein Fixpunkt für ihn. Dann glitt er mit diesen so typischen fließenden Bewegungen an uns vorbei auf die Tür mit der Aufschrift Privat zu, öffnete sie, zwinkerte der Blonden noch einmal zu und verschwand.
Den triumphierenden Blick des Mädchens sah ich nur aus den Augenwinkeln. Meine Aufmerksamkeit war voll auf Janne gerichtet.
Als sie sich wieder uns zuwandte, raste mein Herz zum Zerspringen. Janne lächelte mich an. Ihr Ausdruck wirkte keineswegs verstört
oder erschrocken. Wenn überhaupt, war sie leicht verwirrt, in etwa so, als hätte sie gerade eine Sinnestäuschung gehabt. In der nächsten Sekunde griff sie nach ihrer Teetasse, trank den letzten Schluck aus und schlug vor zu zahlen.
Mir fehlten die Worte. Hatte Janne Lucian denn nicht bemerkt? Sie hatte direkt in seine Richtung geschaut! Klar, da waren die Studenten, aber Lucian hatte mitten im Raum gestanden, wie hatte sie ihn übersehen können? Wie hatte er das angestellt? Und vor allem: Was dachte er jetzt von mir?
Das fragte ich mich die ganze grässliche Nacht, die ich allein in meinem Bett verbrachte. Die Vorstellung, er könnte das Ganze wieder missverstehen und glauben, ich hätte Janne und Spatz absichtlich mit in die Bar genommen, ließ mich keine Sekunde schlafen.
Heute früh hatte ich die erste Doppelstunde Sport geschwänzt und war zu ihm gefahren. Mein Finger fuhr an dem Klingelschild empor, bis ganz oben links: Eternal Fonds .
Ich klingelte Sturm, ohne dass mir jemand öffnete. Ich hatte vor seiner Haustür gewartet, war dann zur Bar gelaufen, doch Max und Consorten machte erst um zehn Uhr auf.
»Miss Wolff?« Ich zuckte zusammen. Verdammt!
Tygers helle Augen bohrten sich in mich hinein und seine Lippen umspielte wieder dieses feine Lächeln.
»Ja?« Am liebsten wäre ich aus der Klasse gelaufen. Wie satt ich diese ewigen Angriffe hatte. Warum ich, warum immer ich?
»Was hat Dalia erwidert, als ihr Mann Steven sie in der Kutsche anbrüllte?«, fragte mich Tyger.
Kampflustig erwiderte ich seinen Blick.
»Go to hell«, hörte ich mich sagen. Neben mir schnappte Suse
nach Luft und für einen Moment erschrak ich vor meiner eigenen Unverschämtheit. Na und, dachte ich trotzig und sah Tyger fest in
die Augen. Na los, gib mir eine Sechs, trag mich ins Klassenbuch
ein, mach mich lächerlich, suspendier mich vom Unterricht. Es ist
mir egal.
Tyger tat nichts dergleichen. Der Ausdruck, mit dem er mich jetzt ansah, hatte beinahe etwas Bewunderndes.
»Alle Achtung«, sagte er anerkennend. »Scheinbar können
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