Lucian
tatsächlich wie eine würdevolle alte Dame anhörte. »› Dumaine, da haben wir’s schon . . . 1912 geboren ?‹
Jetzt ist Pierre sprachlos. Die Katze nutzt die Gelegenheit, um ihm auf die Schulter zu klettern.
›Juni 1912, ja . . .‹
›Sie waren Vorarbeiter in der Gießerei von Answer?‹ ›Ja.‹
›Und Sie sind heute Morgen um zehn Uhr fünfunddreißig getötet worden?‹
Jetzt beugt sich Pierre vor, die Hände auf den Tisch gestützt, und starrt die alte Dame wie betäubt an. Die Katze springt von seiner Schulter auf das Hauptbuch.
›Getötet?‹, bringt Pierre ungläubig hervor.
Liebenswürdig bestätigt es ihm die alte Dame. Ruckartig wirft Pierre den Oberkörper zurück und lacht los:
›Das ist es also . . . Das ist es . . . Ich bin tot.‹
Sein Lachen verstummt unvermittelt und fast heiter erkundigt er sich: ›Und wer hat mich getötet?‹
›Eine Sekunde bitte . . .‹
Mit der Lorgnette vertreibt sie den Kater vom Hauptbuch. ›Weg da, Regulus! Du liegst auf dem Namen des Mörders.‹ Dann entziffert sie die Eintragung im Hauptbuch.
›Aha: Sie sind von Lucien Derjeu getötet worden.‹«
Bei den letzten Worten konnte ich den erschrockenen Laut, der mir in der Kehle steckte, nur mühsam in ein Husten umwandeln. Tyger nahm es amüsiert zur Kenntnis, während Suse mich unter dem Tisch anstieß und Sebastian sich mit einem kurzen, verstörten Blick zu mir umdrehte. Meine Freunde waren offensichtlich ebenso wie ich über den Vornamen des Mörders gestolpert.
»›. . . Ich bitte Sie noch um Ihre Unterschrift . . .‹, las Tyger weiter. »Eine Sekunde lang gerät Pierre aus der Fassung. Schließlich kommt er zum Tisch zurück, nimmt den Federhalter und unterschreibt.
›So‹, erklärt die alte Dame. ›Nun sind Sie richtig tot.‹«
An dieser Stelle klappte Tyger das Buch zu, nippte erneut an seinem Tee und zog die goldene Taschenuhr aus seinem Jackett. Sein linkes Auge zuckte.
»Time for lovely Lovell«, flüsterte Suse mir zu. »Bin gespannt, wie Tyger jetzt den Bogen findet.«
Meine Freundin, die sich in den letzten Tagen zumindest etwas von ihrem grässlichen Erlebnis mit Dimo erholte hatte, setzte sich gespannt in ihrem Stuhl zurück. Nachdem unser Englischlehrer die Uhr wieder in der Tasche seines heute blassblauen Jacketts verstaut hatte, ließ er seine hellen Augen durch das Klassenzimmer wandern. Dann zog er ein zweites Buch aus seiner speckigen Aktentasche.
»Sartres berühmte Legende über die Unfreiheit unseres Daseins«, leitete er über, »wurde im Jahre 1947 veröffentlicht. Ambrose Lovell hingegen widmete sich in seiner Kurzgeschichte Second Chance lost schon viele Jahre zuvor einem ganz ähnlichen Thema. Bei ihm hei-ßen die Protagonisten Steven und Dalia. Ihr Schicksal ist es, während eines heftigen Ehestreits in einer Kutsche ums Leben zu kommen, und als die beiden im Jenseits . . .«
Tyger hatte Lovells Buch aufgeschlagen, aber ich war beim besten Willen nicht mehr imstande, den Worten meines Englischlehrers zu folgen. Einzig meinen Blick hielt ich fest auf ihn geheftet, damit er mich bloß nicht wieder kalt erwischte. Aber in Gedanken zoomte ich zurück zum Sonntag.
Natürlich hatte ich keine Gelegenheit gefunden, mich unter irgendwelchen Vorwänden noch einmal aus dem Haus zu stehlen, war Lucian dann aber trotzdem begegnet – in einer ganz und gar unmöglichen Situation.
Weil Janne noch immer gehandicapt war, hatte Spatz mich gebeten, ihr beim Verladen ihrer Kunstobjekte zu helfen, die wir Sonntagmorgen aus dem Keller ihres Bekannten holten und in einem geliehenen Transporter verstauten. Spatz hatte sich mit dem Künstler in seinem Atelier verabredet, um sich den Schlüssel geben zu lassen, aber als wir vor der alten Fabrik hielten, klingelte ihr Handy. Der Typ hatte seine Tasche mit den Schlüsseln in Lübeck gelassen, wo er eine Ausstellung gehabt hatte, und verschob mit zerknirschten Entschuldigungen den Termin auf den nächsten Tag.
Janne, die auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, fluchte und Spatz verlangte stöhnend nach einem Bier, um ihren Ärger runterzuspülen. Sie gab Gas, bog um zwei Ecken und parkte dann ein. Als ich sah, wo wir gelandet waren, blieb mir fast das Herz stehen. Wir standen vor
Max und Consorten .
»Wollen wir . . . nicht . . . lieber . . .«, fing ich verzweifelt an zu stottern, aber Spatz war bereits ausgestiegen und winkte mir ungeduldig zu.
Panisch überschlug ich meine Möglichkeiten. Ich konnte im Wagensitzen bleiben
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