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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Trancezustand, in den dich meine Mutter versetzt hat«, sagte ich. »Nur dass du es auch selbst tun kannst. Vor dem Einschlafen kannst du versuchen, dir einen Traum zu wünschen. Ich habe es noch nie probiert, aber bei den meisten Menschen scheint es zu funktionieren, sagt Janne. Man muss sich nur stark genug konzentrieren.«
    Auf einmal war ich furchtbar aufgeregt. »Vielleicht ist das ja eine Spur. Vielleicht kannst du dir wünschen zu träumen, wann du mich zum letzten Mal gesehen hast. Bevor du . . .«, ich zögerte, ». . . bevor du dein Gedächtnis verloren hast.«
    Lucian nickte langsam. »Einen Versuch ist es wert«, sagte er.
    Dann streckte er die Arme aus. »Aber nicht jetzt. Komm mal her. Lass uns noch ein bisschen schlafen.«
    Ich löschte das Licht, kuschelte mich wieder in Lucians Arme und roch die Nacht in seinem Haar und mich selbst auf seiner Haut.
    Das zweite Mal weckte uns mein Handy.
    Es war Suse, die Alarm gab. Janne hatte sie gerade zu Hause auf dem Festnetz angerufen.
    »Ich hab ihr erzählt, dass du unter der Dusche stehst«, sagte sie. »Ich glaub nicht, dass sie was ahnt. Aber besser, du machst dich auf den Heimweg.«
    Ich seufzte.
    Lucian ließ mich keinen Moment aus den Augen, als ich mich anzog. Er sah ein bisschen verschlafen aus, die Haare zerzaust, das Gesicht verknittert, aber die fiebrige Unruhe, die ihn sonst umgab, war verschwunden. Das erste Mal, seit ich ihn kannte, sah er glücklich aus.
    »Wann sehe ich dich wieder?«, fragte er, als ich fertig war, und fügte grinsend hinzu. »Wo ich wohne, weißt du ja jetzt. Und wo ich arbeite auch.«
    Ich bezweifelte, dass ich mich heute noch mal aus dem Staub machen konnte. Gerade jetzt hatte ich nicht vor, mein Glück auf die Probe zu stellen und Jannes Misstrauen zu wecken.
    »Spätestens morgen, okay?«, sagte ich. »Nach der Schule muss ich Spatz beim Umzug helfen, sie zieht in ein neues Atelier. Aber danach sage ich einfach, dass ich schwimmen gehe.«
    Lucian glitt aus dem Bett und schloss mich in seinen Armen ein. Er vergrub die Nase in meinen Haaren und murmelte: »Ich warte auf dich. Pass auf dich auf. Lauf nicht vor fahrende Autos.«
    »Versprochen.« Widerwillig löste ich mich aus seiner Umarmung. »Bis morgen. Spätestens.«
    Als ich die Treppen nach unten ging, fühlte ich wieder das Ziehen in meiner Brust, aber diesmal war es nicht schlimm.
    Draußen schien die Sonne, und als ich über die Straße ging, hatte ich das Gefühl zu schweben.

ACHTZEHN
    »›Verzeihung, bin ich mit Ihnen verabredet?‹
    Würdevoll und korpulent, die Lorgnette in der Hand, sitzt die alte Dame vor einem riesigen, aufgeschlagenen Hauptbuch, auf dem ein dicker schwarzer Kater zusammengerollt liegt.
    Leutselig lächelnd sieht sie Pierre durch die Lorgnette an. ›Gewiss, mein Herr.‹
    ›Dann können Sie mir vielleicht sagen, was ich hier soll?‹, fährt Pierre fort und streichelt den Kater, der sich streckt und sich an ihm reibt.
    ›Regulus!‹, weist die Dame den Kater zurecht. ›Willst du den Herrn in Ruhe lassen!‹
    Lächelnd nimmt Pierre den Kater auf den Arm, während die alte Dame fortfährt: ›Ich will Sie gar nicht lange aufhalten, mein Herr. Ich benötige Sie für eine kleine, standesamtliche Formalität.‹ «
    Tygers sonore Stimme erfüllte das Klassenzimmer. Heute hatte er ausnahmsweise nicht Lovell oder einen anderen englischen Schriftsteller für die Lektüre ausgewählt, sondern Jean-Paul Sartres Drehbuch zu seinem ersten Film, Das Spiel ist aus .
    Die englische Übersetzung des französischen Philosophen und Schriftstellers, die Tyger in den Händen hielt, sah alt und abgegriffen aus.
    Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren, aber je länger Tyger las, desto mehr zog mich der Text in seinen Bann. Die 1912 geboreneHauptfigur Pierre Dumaine war ein französischer Rebell, der zur selben Stunde wie eine Madame der höheren Gesellschaft eines gewaltsamen Todes starb. Doch bis jetzt kannte Pierre weder seine Leidensgenossin, noch war ihm bewusst, dass er nicht mehr lebte. Eine geheimnisvolle Stimme aus dem Nichts hatte ihn in eine enge Sackgasse namens Laguénésie gelockt. Dort stand er nun, in dem Hinterzimmer eines kleinen Ladens, und sprach bei einer alten Dame vor. Sie saß an einem Schreibtisch und blätterte in einem aufgeschlagenen Buch.
    »›Da, da, di, di, do, du . . .‹«, fuhr Tyger nach einem Schluck Tee aus seiner Tasse mit der Lektüre fort, wobei er seine Stimme ein paar Oktaven höher schraubte und sich plötzlich

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