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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Karte für mich zu ergattern, als vom Pult her ein leises Räuspern ertönte. Irritiertes Tuscheln, dann wurde es still im Klassenraum.
    Es war, als ob jemand per Fernbedienung die Lautstärke an einer Musikanlage heruntergefahren hätte. Suzy brach mitten im Satz ab und schaute wie alle anderen zum Lehrerpult, auf das auch ich jetzt meinen Blick richtete. Mein Atem setzte aus.
    »Was soll das?«, flüsterte Suzy irritiert. »Wer ist das?«
    Diese Frage hätte ich ihr beantworten können. Wenn ich imstande gewesen wäre zu sprechen.
    Der hochgewachsene Mann in dem grauen Leinenanzug, der jetzt eine Tasse dampfenden Tee auf der Tischplatte des Lehrerpultes absetzte, war Morton Tyger.

SECHSUNDZWANZIG
    Mein Englischlehrer aus Hamburg stand vor der Klasse wie ein Fuchs im Hühnerstall, der genussvoll die letzten Sekunden vor seinem Großangriff auskostet. Daran, dass Tyger mein geschocktes Gesicht zur Kenntnis nahm, zweifelte ich keine Sekunde, aber meine Mitschüler schienen es nicht zu bemerken. Aus der allgemeinen Irritation schloss ich, dass sie ihn genauso wenig erwartet hatten wie ich.
    Wie hypnotisiert folgte ich Tygers Blick, der jetzt von Gesicht zu Gesicht wanderte, bis er irgendwo in der letzten Reihe hängen blieb. Ich saß mit dem Rücken zum Fenster und sah, dass Tyger meinen Sitznachbarn aus dem Geschichtsunterricht mit dem bedruckten TShirt ins Visier genommen hatte. Seine linke Augenbraue zog sich in die Höhe und seine Lippen umspielte ein winziges Lächeln.
    »Was für eine interessante Aufforderung«, kommentierte er die Aufschrift auf dem T-Shirt des Jungen. » Sprich mich bloß nicht an . Ich komme diesem Wunsch gerne entgegen. Darf ich stattdessen mit dir reden? Dir etwas mitteilen? Dich informieren? Dir zuflüstern? Oder dich ANSCHREIEN?«
    Das letzte Wort jagte wie ein Geschoss durch den Klassenraum. Der Punk fuhr zusammen, als hätte Tyger ihn tatsächlich mit einem schweren Gegenstand getroffen. Doch der hatte schon wieder sein höfliches Lächeln auf den Lippen.
    »Wie ist dein Name?«, fragte er sanft.
    »Ähm . . .« Der Punk sah aus, als würde er am liebsten unter dem Tisch verschwinden. »I’m Randy.«
    »Oh . . . really?« Tygers Lächeln wurde zu einem Strahlen und im nächsten Augenblick wurde mir auch klar, warum.
    »Da wären wir doch gleich bei meinem Lieblingsthema angelangt«, sagte er entzückt. Den kleinen feinen Unterschieden zwischen amerikanischem und britischem Englisch. In eurem Land ist Randy ein populärer Vorname. Wenn sich in England jemand als ›Hi I’m Randy‹ vorstellt, verkündet er damit nichts anderes als ›Hi, ich bin geil‹.«
    Tyger wartete ab, bis sich das perplexe Gelächter der Schüler gelegt hatte, dann nickte er dem Punk freundlich zu und raunte: »Hi, ich bin Morton Tyger, euer neuer Englischlehrer für dieses Semester. Und ich teile dir mit, Randy, dass die Entscheidung, ob du zukünftig von mir angesprochen wirst oder nicht, von deiner Aufmerksamkeit in meinem Unterricht abhängt. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
    Der Punk nickte. Die Klasse war zu stummem Staunen erstarrt.
    Noch immer ignorierte Tyger mich, oder besser gesagt: Er tat so, als wäre ich genau wie die anderen ein ganz gewöhnlicher amerikanischer Teenager, den er zum ersten Mal sah. Und wie Tyger zu amerikanischen Teenagern stand, hatte er mir bereits in Deutschland unmissverständlich klargemacht.
    Was ihn nach Amerika, genauer: nach Los Angeles, noch genauer: an die Pacific Palisades Highschool – und ganz genau: in meine Klasse, verschlagen hatte, behielt er ebenfalls für sich. Und ich war zumindest jetzt nicht in der Verfassung, ihn danach zu fragen.
    Tyger nippte an seiner Teetasse, setzte sich hinters Pult und forderte ein Mädchen aus der dritten Reihe auf, ihn freundlicherweise darüber in Kenntnis zu setzen, welches Thema sie gerade durchnahmen.
    Das Mädchen war so nervös, dass es vom Stuhl aufsprang. Vielleichthatte sie Angst, Tyger würde nach ihrem Namen fragen, aber das tat er nicht. Er rührte in seiner Teetasse und funkelte sie aus seinen blitzblauen Augen an.
    »Re. . .«, stotterte das Mädchen, »wir machen gerade Re. . ., Rez. . . Rezessionen.« Sie stieß ein erleichtertes Stöhnen aus und ließ sich wieder auf ihren Platz plumpsen.
    »Wie überaus interessant.« Auf Tygers Gesicht erschien erneut dieser entzückte Ausdruck. »Erzähl mir mehr darüber, Miss . . . wie ist dein Name?«
    Tyger legte den Kopf schief. Suzy setzte zu einem entgeisterten

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