Lucian
schwebender. Nicht nur mein Körper, auch die Gedanken. Gerade die Gedanken.
Schwimmen war für mich wie Fliegen ohne Flügel. Und irgendwann kam dieser berauschende Punkt, an dem ich die eigene Anstrengung nicht mehr wahrnahm, nur noch den Rhythmus im Wasser, die Einheit von Bewegung und Getragensein. Erst als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, merkte ich, was ich geleistet hatte. 6,2 Kilometer in 72,22 Minuten. Ich fühlte jeden einzelnen Muskel und mein Puls rauschte mir in den Ohren. Aber in meinem Kopf herrschte endlich Ruhe, zumindest für den Moment.
Auf dem Weg nach Hause nahm ich mir fest vor, den Fremden aus meinem Kopf zu verbannen. Es war wieder Mittwoch und es war genau eine Woche her, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Schlussmit dem Gegrübel, Schluss mit den quälenden Fragen, was er von mir wollte oder welche Zufälle uns immer wieder zusammenführten.
Heute war ich die Mittwochskönigin und ich würde mit Spatz und Janne Ocean’s Eleven schauen. Ich würde essen und den Film genießen und schlafen – und morgen würde ich versuchen, das Ganze logisch zu betrachten.
Unsere Wohnung roch nach Tausendundeiner Nacht. Janne hatte laut Spatz über vier Stunden in der Küche verbracht. Mit den orientalischen Vorspeisen, die sie zubereitet hatte, hätte man eine halbe Armee versorgen können oder, wie Spatz bemerkte, einen orientalischen Harem.
Janne war die Chefköchin in unserem Frauenhaushalt, und wenn sie Stress im Job hatte, konnten ihre Kocharien schon mal ausarten. Wenn Jannes Kollegen, mit denen sie und Spatz befreundet waren, zu Besuch kamen, flehte Spatz sie jedes Mal an, meiner Mutter doch die besonders schwierigen Fälle weiterzuvermitteln. Ich protestierte dann immer entschieden. Spatz konnte so viel essen, wie sie wollte, ohne auch nur ein Gramm zuzulegen. Bei mir dagegen bedeutete ein besonders gestörter Patient von Janne garantiert ein Gürtelloch mehr.
Worauf ich mich heute wieder einmal einstellen konnte. Ungefähr zwei Dutzend gefüllte Schälchen verteilten sich auf dem langen Beistelltisch neben dem Tagesbett. Im Vogelbauer stritten sich Jim Bob und John Boy um ihren Ehrenplatz an der frischen Hirsestange. Auf dem Fernseher thronte der nimmersatte Anton und auf dem Bildschirm verkündete Dash seinen Komplizen: »Wir stecken voll in der Scheiße! Wenn wir nicht geil darauf sind, auf Monaco auszuweichen, sind wir voll Backe.«
»Arschbacke!«, tönte Spatz im gleichen Atemzug wie Dash. Wir sahen den Film zum zweiten Mal in diesem Jahr und Spatz hatte, selbstwas die dämlichsten Witze betraf, ein gutes Gedächtnis. Wahrscheinlich lag es an ihrem Zweitberuf. Sie jobbte im Theater als Souffleuse.
Sie saß mit untergeschlagenen Beinen neben mir auf dem breiten Tagesbett unseres Dachbodens. Seit einer Woche häkelte sie an dem ersten Objekt ihrer neuen Serie: Sponglia beatificae . Glücksschwamm . Noch war nicht genau zu erkennen, zu welchem Ganzen sich die changierenden Goldfäden verbinden würden, aber Spatz war Feuer und Flamme und hatte vor, mit dieser Serie ihre erste Ausstellung zu machen. Das Garnknäuel lag auf meinem Schoß und ich gab mir Mühe, es nicht vollzukrümeln.
Janne saß rechts von mir, und während Spatz zumindest mit den Ohren das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgte, war meine Mutter nicht wirklich bei der Sache. Ähnlich wie ich schien sie sich nur schwer auf den Film konzentrieren zu können.
Sie aß ihren Couscous-Salat auf, den sie sich auf den Teller gehäuft hatte, streckte sich und stand auf. »Ladys, ihr seid mir nicht böse, wenn ich euch mit dem Rest des Films allein lasse? Ich muss morgen früh raus.«
Spatz sah von ihrer Häkelei auf.
»Alles okay?«, fragte sie besorgt und Janne nickte. »Alles bestens, ich brauch nur ein bisschen Schlaf. Gute Nacht, ihr beiden. Gute Nacht, John Boy. Gute Nacht, Jim Bob.« Sie warf einen Luftkuss in die Runde und wandte sich zur Wendeltreppe. »Räumt ihr bitte das Geschirr weg?«, hörten wir sie im Heruntergehen rufen.
»Schwerer Fall?«, fragte ich Spatz, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden.
»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete sie.
Spatz war die einzige Privatperson, der sich Janne – wenn überhaupt – anvertraute, was ihre Arbeit anging. Meine Mutter war eine Verfechterin der Schweigepflicht. Nie hätte sie mir gegenüber einWort über die Probleme ihrer Klienten verloren. Aber natürlich wusste ich, was Janne in ihrem Beruf so alles zu hören bekam, und damit meinte ich
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