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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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nicht Menschen wie unsere Nachbarin Frau Dunkhorst, die ihre Stunden bei Janne wahrscheinlich nur dazu nutzten, ihre zahlreichen Krankheitssymptome zu schildern. Unter Jannes Klienten waren Frauen, die vergewaltigt oder in ihrer Kindheit misshandelt worden waren, genauso wie Menschen, die ihre eigene Gewalt nicht im Griff hatten. Für Janne waren auch Täter Opfer. Vor ein paar Jahren hatte ich einmal mitbekommen, wie sie auf ihrem Notfallhandy mit einem Mann sprach, der unter Gewaltfantasien litt.
    Ich wusste nicht, was stärker war: meine Abscheu, dass meine Mutter so verständnisvoll auf diesen kranken Typen am anderen Ende einging – oder meine Bewunderung für sie. Oft fragte ich mich, wie sie das aushielt.
    Ich drückte auf die Stopptaste der Fernbedienung. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf den Film. Aber genauso wenig wollte ich ins Bett. Ich brauchte die Gesellschaft von Spatz, ich brauchte sie, damit sie mich ablenkte.
    »Wollen wir deine Platte hören?«, schlug sie vor. »Sie ist wunderschön.«
    Ich nickte. Spatz legte ihr Häkelzeug zur Seite und griff nach der Schallplatte von Joan Armatrading, die ich ihr am Sonntag vom Flohmarkt mitgebracht hatte. Es war nicht unbedingt meine Art von Musik, aber das leise Kratzen der Platte hatte etwas Beruhigendes und die Sängerin hatte eine wunderschöne, sonore Stimme.
    Das Lied hieß Save me und Spatz sah mich an und ihr Gesichtsausdruck wurde weich. »Dieses Lied habe ich an dem Abend gehört, als ich deine Mutter kennenlernte«, sagte sie mit ihrer hohen Stimme. »Es lief im Radio, als ich in dem Café neben dem Kinderkrankenhaus etwas zu essen für sie holte.«
    Ich nickte. Ich hatte keine Erinnerung mehr an diesen Tag, ich war noch zu klein gewesen, aber die Geschichte kannte ich natürlich. Als Kind hatte ich sie wieder und wieder hören wollen. Und bis heute staunte ich, dass ausgerechnet ich der Grund dafür war, dass die beiden sich getroffen hatten.
    Spatz schloss ihre Augen und wir lauschten dem Gesang von Joan Armatrading:
    Like a moth, with no flame to persuade me Like blood in the rain, running thin
    While you stand on the inside, looking in Save me . . .
    »Erzähl mir davon«, bat ich Spatz. »Erzähl mir die Geschichte noch einmal.«
    Spatz schlang die dünnen Arme um ihre Knie und lächelte mich an. »Meinst du das im Ernst?«, fragte sie.
    »Ja«, sagte ich. Geschichten aus meiner Kindheit, und diese im Besonderen, hatten oft die gleiche Wirkung auf mich – sie strahlten immer so etwas wie Trost aus. Und Trost war das, was ich heute Abend brauchte.
    »Na dann«, sagte Spatz. »Du warst drei Jahre alt . . .«
    Ich nahm mir noch eine Halbmondtasche und lehnte mich in die dicken Kissen zurück.
    » . . . und du hast auf dem großen Spielplatz im Stadtpark geschaukelt. Es war ein wunderschöner Herbsttag, Janne trug ihren blauen Wollmantel und stieß dich an. Höher, Mam , hast du gerufen, immer lauter, immer aufgeregter. Höher, höher! Bis zum Himmel! Janne stand hinter dir und hat dich immer stärker angestoßen, während du gejubelt hast. Ich habe auf der Wiese gesessen und gezeichnet, aberihr beiden habt mich abgelenkt – nein, Janne hat mich abgelenkt.« Spatz lächelte. »Sie nahm nichts und niemanden wahr, nur dich. Sie schien völlig in deinem Glück aufzugehen. Die Sonne fiel genau auf ihr Haar, es schimmerte und ihre Augen strahlten. Und dann, wie aus heiterem Himmel, hast du die Schaukel losgelassen. Sie war hoch oben in der Luft und du bist abgestürzt. Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Es war einer dieser Momente, die wie eingefroren wirken: du in der Luft, Janne hinter dir, die Hände ausgestreckt, als könnte sie dich auffangen. Was natürlich absolut unmöglich war. Du bist mit dem Hinterkopf auf eine Steinplatte gekracht. Es war ein fürchterliches Geräusch und danach hast du dich nicht mehr gerührt.«
    Spatz schloss für einen Moment die Augen und verzog das Gesicht. »Janne schrie und es klang fast noch schlimmer als dein Aufprall. Es war ein gellender, markerschütternder Ton, der nichts Menschliches mehr hatte. Ich sah eine rote Blutspur unter deinem Kopf und hatte den völlig idiotischen Gedanken, dass rotes Blut und weißer Stein irgendwie nicht zusammengehören.«
    Spatz schüttelte den Kopf. »Bescheuert, was das Gehirn in solchen Momenten produziert. Jedenfalls war viel Betrieb auf dem Spielplatz und im Nu hatte sich eine kleine Menge um euch versammelt. Irgendjemand rief nach einem Krankenwagen. Als

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