Lucian
ich mich durch die Leute gedrängelt hatte, hielt Janne dich im Arm. Ich habe niemals zuvor und niemals danach so viel Angst im Gesicht eines Menschen gesehen. Deine Ärmchen hingen schlaff herunter und es war offensichtlich, dass auch sie nicht mehr hätte weiterleben können, wenn du gestorben wärst.«
Spatz zupfte nachdenklich an ihrem Glücksschwamm herum. »Niemand, der kinderlos ist, kann wirklich verstehen, was in solchen Momenten in einer Mutter vorgeht«, sagte sie leise. »Aber ich habe es gesehen.«
Sie machte eine kleine Pause und stupste mich an. »Manchmal bin ich traurig, dass ich so was nicht fühlen kann, weißt du?«
Ich nickte. Spatz hatte keine eigenen Kinder. Sie machte kein großes Aufhebens darum, aber ich wusste, dass es für sie ein Thema war.
»Deine Mutter und du, ihr seid umringt gewesen von Menschen, die es zweifellos alle gut meinten«, fuhr sie fort. »Ein Mann, der mit seinem Handy den Krankenwagen gerufen hatte, machte sich furchtbar wichtig. Damals trug kaum jemand ein Handy bei sich, aber er fuchtelte die ganze Zeit mit dem Teil in der Luft herum, damit es jeder sehen konnte.«
Spatz legte den Glücksschwamm zur Seite und grinste mich an. »Der Typ war einfach nur grottenpeinlich. Er trug den scheußlichsten Anzug, den ich je gesehen hatte. Und kurz bevor der Krankenwagen kam, dongelte das Teil plötzlich los und der Typ fing doch tatsächlich an, sich lautstark mit irgendeinem Kunden zu unterhalten.«
Spatz plusterte sich auf und ahmte die Stimme des Mannes nach. »›Um ehrlich zu sein, Ihr Anruf erreicht mich ein wenig ungelegen, da ich gerade sozusagen privat im Einsatz bin . . .‹« Spatz rollte mit den Augen. »Es war echt unfassbar, wie der sich aufgeführt hat, aber ich hätte ihm trotzdem am liebsten seine polierte Halbglatze geknutscht. Und dir hat er letztendlich das Leben gerettet. Tut mir ja auch leid, dass es so ein blöder Affe sein musste.« Spatz fing scheppernd an zu lachen. »Den Halbglatzenkuss«, fuhr sie fort, »habe ich mir natürlich gespart. Stattdessen hab ich deinen kleinen weißen Bären aufgehoben. Er lag neben der Schaukel.«
»Momas Bär«, sagte ich und dachte an letzten Mittwoch, als Janne ihn aus der Kiste gekramt hatte. Seitdem lag er wieder in meinem Bett.
»Ja, genau«, Spatz nickte. »Kurz darauf kam endlich der Krankenwagen.Du warst noch immer ohne Bewusstsein, und als die Sanitäter dich aus Jannes Armen nahmen, um dich auf die Trage zu legen, sah deine Mutter aus, als ob man ihr das Herz ausgerissen hätte. Sie war starr vor Schmerz. Dann trafen sich unsere Blicke. Ich stand da mit deinem kleinen Bären in der Hand und Janne streckte ihre Hand nach ihm aus. Und irgendwie wusste ich, dass sie nicht nur den Bären meinte.«
Spatz schwieg einen Moment. »Ohne ein Wort ging ich mit ihr, wir stiegen in den Krankenwagen, der mit lautem Sirenengeheul losfuhr. Du lagst auf der Trage, der Sanitäter hatte dir eine Sauerstoffmaske auf Nase und Mund gelegt. Du warst so winzig und Janne sah so verloren aus.«
Sie räusperte sich. »Im Krankenhaus ging alles ganz schnell. Du wurdest auf die Intensivstation gebracht, wohin Janne nicht mitdurfte, und als sich die Tür hinter dir schloss, brach sie zusammen. Sie ging einfach in die Knie, ohne einen Laut, ohne etwas zu sagen. Es sah nicht so theatralisch aus, wie es klingt, sondern so, als hätte man deiner Mutter sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich ging zu ihr, setzte mich neben sie und so warteten wir, eine Ewigkeit lang.« Spatz verschränkte ihre Finger ineinander.
»Janne hielt den kleinen Bären umklammert, starrte ihn die ganze Zeit an und flüsterte, dass er bei dir sein müsste, dass du nicht alleine sein dürftest. Dann sagte sie den Namen deines Vaters, immer wieder. Alec. Alec. Alec . . . Ich fragte, ob ich ihn anrufen sollte, aber sie wusste nur, dass er auf einem Dreh war. Sie hatte keine Nummer.«
Spatz zwirbelte eine Strähne ihrer Haare zwischen den Fingern. »Es dauerte eine Ewigkeit, ich nervte immer wieder alle Schwestern, aber endlich öffnete sich die Tür. Der Arzt, es war ein junger Mann mit roten Haaren und Sommersprossen, kniete vor uns nieder. Ich weiß noch, wie tief mich diese Geste rührte. Er nahm die Hände deiner Mutter in seine und sagte, dass alles gut sei. Für ein paar Minutenhättest du tatsächlich in Lebensgefahr geschwebt, aber jetzt seist du außer Gefahr.«
Sie schüttelte den Kopf. »In diesem Moment begann deine Mutter, am
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