Lucian
Tiefe.
Ich blendete die Geräusche aus – das Kindergeschrei, die Durchsagen der Bademeister, die grölenden Jungs vor den Sprungbrettern. Weg. Alles weg. Am liebsten wäre ich ewig hier unten geblieben, aber irgendwann wollte meine Lunge nicht mehr.
Als ich wieder an die Oberfläche kam, hätte ich eigentlich außer Puste sein müssen. Stattdessen erfüllte mich eine Welle von Energie. Sie kam von innen, strömte durch meine Adern und wärmte meinen ganzen Körper.
Ich bündelte meine Kraft und ließ sie in meine Bewegungen fließen, die jetzt ruhig und schnell zugleich waren. Mein Rhythmus war da, jeder Zug, den ich machte, fing an, dem anderen zu gleichen, bis ich nur eine einzige, stromlinienförmige Bewegung war. Keiner kreuzte mehr meinen Weg, aber vermutlich hätte mich auch das nicht stoppen können.
»Wow.« Suse hielt mir den Polar hin. »Was ist denn in dich gefahren? Hast du da unten getankt? Das war absolute Bestzeit, Becky.«
Ich grinste, schwang mich aus dem Wasser und schüttelte mir die Tropfen aus dem Haar. Das erste Mal seit Tagen fühlte ich mich richtig gut.
Wir verbrachten den Abend bei uns. Mit einer Riesenschüssel Popcorn machten Suse und ich es uns auf unserem Dachboden gemütlich. Spatz war im Theater und Janne leistete in ihrer Praxis mal wieder Überstunden.
Suse sprach unablässig von Dimo, hin- und hergerissen zwischen seliger Vorfreude und panischer Angst wegen ihrer unterschiedlich großen Brüste, und ich versuchte, sie, so gut es ging, zu beruhigen. Als ich alle meine Argumente aufgezählt hatte, schlug ich vor, uns mit Grey’s Anatomie abzulenken, Suses Lieblingsserie, und das funktionierte.
Den Rest des Abends gammelten wir vor dem Fernseher. Die Tür des Vogelbauers stand offen. Zwischendurch fütterten wir John Boy und Jim Bob mit Popcornkrümeln und irgendwann hockte John Boy auf meiner Schulter, wo er an meinem Ohrläppchen knabberte.
»Na, Knastbruder? Alles klar bei dir?«, wisperte ich. John Boy zwitscherte leise. Ich hatte ihn schon immer ein bisschen mehr als Jim Bob gemocht. Er hatte so eine zärtliche Art, manchmal hatte ich fast das Gefühl, er verstand, was ich sagte.
Irgendwann schlief Suse auf dem Tagesbett ein. Ihr Mund stand offen und sie schnarchte leise. Behutsam deckte ich sie mit einer Wolldecke zu.
Aber obwohl es mir seit dem Schwimmen sichtlich besser ging, war ich nicht müde. An den Tagen hätte ich im Stehen einschlafen können, in den Nächten war ich hellwach. Um mich zu beschäftigen, startete ich einen Großangriff auf den Kühlschrank und zog mir zu meiner Ausbeute (kalte Lasagne vom Vorabend, ein halbes Baguette mit Kräuterbutter und Pfeffersalami, acht Minidickmanns) Pulp Fiction rein. Um halb zwölf kam Janne nach Hause, zu geschafft, um sich noch zu unterhalten. Um halb eins hörte ich Spatz in der Küche rumoren und um halb drei schaltete ich den Fernseher aus, um michmit übelsten Bauchschmerzen auf die Seite zu rollen. Als mir meine beste Freundin um kurz nach acht die Decke wegzog, bettelte ich um Gnade.
»Nix da. Selbst schuld, wenn du dir nachts die Wampe vollschlägst«, sagte sie streng. »Jetzt wird gesteppt, und zwar in die Stadt.«
Nach dem Frühstück – ich trank einen Kamillentee – schleppte mich Suse durch die Europa-Passage in der Innenstadt, wo sie auf drei Etagen in einem Dutzend Läden acht Dutzend Klamotten durchprobierte. Im Powershoppen war meine Freundin unschlagbar. Ich lächelte den Verkäuferinnen entschuldigend zu, als ich sah, wie sie Suses Klamottenberge zusammenrafften, um alles wieder an Ort und Stelle zu räumen. Am liebsten hätte ich mitgeholfen, um nicht im Stehen einzuschlafen. Nach vier Stunden hatte Suse ihre erste Wahl getroffen: einen türkisfarbenen Seidenslip von Women’s Secret.
»Das meinst du jetzt nicht ernst«, sagte ich schwach. »Ich denke, du suchst was zum Anziehen und nicht zum Ausziehen.«
»Das ist nur, um mich bei der Stange zu halten«, sagte Suse. »Die haben hier nix als Schrott in diesen Markenläden. Ich fürchte, wir müssen noch mal zu Urban Outfitters. Oder in die Schanze. Oder beides. In dem Secondhandladen am Schulterblatt finden wir bestimmt was.«
»Nein«, sagte ich.
»Doch«, konterte Suse mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Und zwar schnell. Dimo holt mich um sieben von zu Hause ab, was uns noch exakt vier Stunden gibt. Du kommst doch mit, Becky, und stehst mir bei, bis er da ist, oder?«
»Wenn ich bis dahin noch lebe«, seufzte
Weitere Kostenlose Bücher