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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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ich.
    Suse spendierte mir einen Milchkaffee und – weil mein Magen langsam wieder aufnahmebereit war – ein paar süße Törtchen beim Portugiesen am Schulterblatt.
    Im Secondhandladen gegenüber entschied sie sich wie durch ein Wunder innerhalb von fünf Minuten für einen Superminirock aus hellbraunem Wildleder, einen grünen Stretchpulli mit Trompetenärmeln und eine breite Krawatte im Stil der Sechzigerjahre, schokoladenfarben mit winzigen orangefarbenen Pünktchen.
    »Wow!«, sagte ich. »Die Krawatte macht einen high, wenn man länger als zehn Sekunden draufschaut.«
    »Bestens«, befand Suse zufrieden. »Dann lenkt sie Dimo wenigstens von meinen Brüsten ab. Und jetzt ab nach Hause.«
    Suse wohnte mit ihrer Mutter in einer Neubauwohnung in Eppendorf. Wir nahmen die U-Bahn, und als wir in das überfüllte Abteil stiegen, starrte ich neidisch auf einen Kinderwagen, in dem ein kleines Baby lag und im Schlaf an seinem Tigerentenschnulli saugte.
    Ich hielt mich an einer Haltestange fest. »Becky auch heia machen«, nörgelte ich und legte meinen Kopf auf Suses Schulter, als ich es plötzlich wieder spürte. Etwas in mir schloss sich. Mir wurde warm, ich fühlte diese kraftvolle Ruhe in mir aufsteigen und gleichzeitig schlug mir das Herz bis an die Rippen.
    »Er ist hier«, hörte ich mich sagen.
    »Hä?« Suse starrte mich verständnislos an, aber ich achtete nicht auf sie, sondern drehte wie eine Wilde den Kopf nach allen Seiten. Wenn das Abteil nur nicht so voll gewesen wäre! Ich drängte mich an dem Kinderwagen vorbei und zwischen den Leuten durch, trat einer älteren Dame auf den Fuß, blieb aber nicht stehen, um mich zu entschuldigen. Mit jedem Zentimeter, mit dem ich mich vorwärtsschob, wurde das Gefühl intensiver. Hinter mir ertönte Suses Stimme.
    »Hey, Becky . . . warte . . .«
    Aber ich kümmerte mich nicht um sie. »’tschuldigung . . . ich muss . . . darf ich bitte, ich suche, danke . . .«
    »Halt, junges Fräulein.« Ein schrankgroßer Mann mit einem bronzefarbenen Walrossschnurrbart hielt mich am Arm. »Nicht so schnell, Fahrkartenkontrolle.«
    Die Fahrgäste fingen schon an, in ihren Taschen zu suchen, aber mich überflutete eine Welle der Verzweiflung. Die U-Bahn bremste ab und kam zum Stehen. Hoheluftbrücke . Die Türen öffneten sich. Ich riss mich aus dem Griff des Mannes los, kämpfte mich vorwärts zur Tür – aber es war zu spät.
    Mit einem Ruck setzte sich die U-Bahn wieder in Bewegung. Während ich mein Gesicht an die Scheibe presste, blieb der Junge auf dem Bahnsteig zurück.
    Er sah mich an und in seinem Gesicht spiegelte sich meine eigene Fassungslosigkeit.
    »Becky, das ist mehr als unheimlich«, sagte Suse, als wir auf der geblümten Hollywoodschaukel in ihrem Zimmer saßen. Das riesige Ding nahm fast den ganzen Raum ein. Es quietschte bei jeder Bewegung, aber Suse wollte sich nicht davon trennen. Früher, als wir noch zur Grundschule gingen, hatten wir hier immer Heidi und Klara aus der Trickfilmserie nachgespielt. Ich war die heimwehkranke Heidi, Suse die querschnittsgelähmte Klara und die Hollywoodschaukel ihr Rollstuhl. Dass es ein ziemlich großer Rollstuhl war, war uns piepegal. Aus Suses Mutter machten wir das strenge Fräulein Rottenmeier und Suses Vater war der gute Herr Sesemann. Wenn er von seinen langen Reisen (in Wirklichkeit: aus dem Büro) zurück nach Hause kam, klingelten wir ihn alle paar Minuten mit einer kleinen Glocke herein und flehten ihn an, mich zurück in die Berge zu bringen, zu Geißli und Schwänli, zum Geißenpeter und zu meinem Großvater, dem Alm-Öhi. Suses Vater spielte fast immer mit, einmal nahm er Suse sogar huckepack und schleppte sie durchdie Wohnung, während ich neben ihm herhüpfte und jodelte, dass ich jetzt auf meine grünen Wiesen zurückkehren würde, wo das Glück auf mich wartete.
    Inzwischen kehrte Suses Vater nach der Arbeit in seine Einzimmerwohnung in Hammerbrook heim und Suses Mutter war wieder mal mit dem Zahlenhengst unterwegs.
    »Er hat von der Gravur auf dem Anhänger gewusst?« Suse spuckte die Haarsträhne aus, an der sie die ganze Zeit herumgekaut hatte.
    Nach der Sache mit der U-Bahn hatte ich es nicht mehr ausgehalten. Ich musste darüber sprechen, was mit mir los war, ich brauchte jetzt jemanden, der mir sagte, dass ich nicht durchdrehte – und wozu hatte ich schließlich eine beste Freundin? Suse hatte mir zugehört, aber ihre hellen Augenbrauen hatten sich immer dichter zusammengeschoben, je mehr sie von

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