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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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wir ohnehin einen weiten Bogen.
    Ich schickte Dad eine Antwort und erhielt postwendend eine neue Mail.
    Little Wolf, du bist noch wach?
GERADE habe ich an dich gedacht!
Deine Mail erreicht mich am Lake Nacimiento. Ich gönne mir eine kleine Auszeit und schick dir ein paar Fotos.
Die Katze, die du auf dem ersten Foto siehst, ist mir zugelaufen, obwohl es eigentlich eher so war, als wäre ich ihr zugelaufen. Als ich Montagabend hier ankam,
war die Katze schon da und schlief auf dem Schaukelstuhl, als gehöre sie hierher. Manchmal streift sie durch die Gegend, aber sie kommt immer zurück.
Ein bisschen erinnert sie mich an dich, mit ihrem schwarzen Fell und den funkelnden Augen.
Weißt du noch, damals, als wir den Sommer über hier waren? Du hast schwimmen gelernt und immer gesagt, wenn du groß bist, schwimmst du durch den ganzen Drachensee, vom Kopf bis zur Schwanzspitze. Was meinst du? Bist du langsam groß genug?
Wish you were here!
Love, Dad
    Den Namen Drachensee hatte ich dem Lake Nacimiento gegeben, als Dad ihn mir zum ersten Mal auf der Landkarte zeigte. Der See hattewirklich die Form eines Drachen, mit einer langen, zackigen Schwanzspitze. »Unser Haus«, hatte Dad damals gesagt und auf die Brust des Drachen getippt, »ist hier.«
    Ich betrachtete die Fotos, die mein Vater mitgeschickt hatte. Das erste zeigte die Veranda von Dads Ferienhaus. Die Katze schlief auf dem Schaukelstuhl, sie hatte sich zusammengerollt und ihren Rücken zur Kamera gedreht, sodass sie aussah wie eine schwarze Pelzkugel.
    Das zweite Foto zeigte den See bei Nacht. Es war eine unwirkliche, fast mystische Stimmung. Am schwarzblauen Himmel zwischen weißen Nebelschleiern stand der Vollmond, er warf einen strahlenden Hof auf die Oberfläche des Wassers. Das Schilf am Ufer leuchtete silbrig und zwischen den Gräsern führte ein Holzsteg ins Wasser. Er war leuchtend rot gestrichen und sah aus wie ein langer Pfeil. Ich berührte meinen Bildschirm mit der Fingerkuppe. Als ich sie zurückzog, hatte ich auf der spiegelglatten Wasserfläche meinen Abdruck hinterlassen. Sogar die feinen Rillen meiner Fingerspitzen konnte man erkennen.
    Ich stand auf, griff mir den kleinen weißen Bär von meinem Bett und ging zum Fenster. Die Musik hatte aufgehört. Im Zimmer war es still.
    »Lu«, flüsterte ich und sah von seinen dunklen Knopfaugen auf die leere Straße. »Was zum Teufel ist los mit mir, Lu?«

FÜNF
    Die nächsten Tage geschah nichts, außer dass Suse minütlich nervöser wegen ihres Dates mit Dimo wurde und mich überredete, Samstagvormittag mit ihr shoppen zu gehen, damit die Stunden bis zum Abend schneller vergingen. Im Gegenzug bot sie an, am Freitag nach der Schule mit mir in die Alsterschwimmhalle zu kommen, um meine Zeit zu messen.
    Ich hatte tatsächlich versucht, das, was passiert war, noch einmal logisch zu betrachten. Aber ich war kläglich gescheitert. Es gab einfach keine vernünftige Erklärung für das rätselhafte Auftauchen des Fremden – zumindest keine, die mir weiterhalf. Ablenkung, das war mein einziger Ausweg.
    Als ich mich vor dem Schwimmen abduschte, drehte ich die Temperatur absichtlich auf ganz heiß, um das Eintauchen ins kalte Wasser noch intensiver zu empfinden. Diese schockartige Berührung mit dem anderen Element, wenn einem für den Bruchteil einer Sekunde der Atem stockt und gleich darauf ein Kribbeln durch den ganzen Körper strömt, ließ sich mit nichts vergleichen. Vielleicht hätte dieser Lovell, von dem uns Tyger ständig erzählte, es auch mal mit Schwimmen versuchen sollen, dachte ich.
    Während Suse in Bikinihose und T-Shirt am Beckenrand saß und ihre Beine im Wasser baumeln ließ, zog ich meine Bahnen. Von allen Disziplinen war mir Kraulen am liebsten.
    Beim Brustschwimmen hatte ich immer das Gefühl, das Wasser von mir wegzuschieben, während das Kraulen mehr wie ein Pflügen warund sich auch der flache Wechselschlag mit den Beinen viel leichter und zielgerichteter anfühlte als die froschartigen Bewegungen beim Brustschwimmen.
    Suse hielt den Polar in der Hand und gab mir die Zeiten durch. Heute war ich leider nicht in Bestform, was sicher auch daran lag, dass freitags ziemlicher Betrieb herrschte. Der Lärmpegel hallte von den Kachelwänden wider und ich musste ständig einem dicken Kerl ausweichen, der mitten auf meiner Bahn toter Mann spielte. Als er mich dann auch noch anpflaumte, weil ich ihn an der Schulter gerammt hatte, knurrte ich zurück und stieß mich mit entschlossenen Zügen in die

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