Lucian
war.
Nachdem sich Spatz verabschiedet hatte, zog ich Cargohosen und meinen roten Strickrolli an, stopfte eine warme Jacke, ein paar dicke Socken und eine Wolldecke in meine Schultertasche und ging nach draußen, wo Sebastian schon auf mich wartete. Als ich ihn in seiner lässigen Haltung vor der Laterne stehen sah, die Hände in den Hosentaschen seiner zerschlissenen Jeans, sein schiefes Grinsen auf den Lippen, spannten sich meine Glieder an. Sebastian sah dem Jungen nicht im Geringsten ähnlich, ganz im Gegenteil, aber für einen Moment war ich trotzdem stocksteif.
Sebastian runzelte die Stirn. »Alles klar?«
»Ja. Klar. Alles bestens.« Bei dem Versuch zu lächeln fühlten sich meine Lippen an wie ein straffes Gummiband.
»Mhm.« Sebastian berührte meine Wange. Seine Finger waren warm, sie vibrierten auf meiner Haut und er zog sie zurück. »Du siehst süß aus. Rot steht dir.«
»Danke.« Ich räusperte mich. »Lass uns los. Suse kriegt wahrscheinlich schon einen Anfall nach dem nächsten.«
Wir fuhren auf Sebastians Vespa in Richtung Blankenese bis zum Falkensteiner Ufer, wo wir mittags schon den besten Platz reserviert hatten. Der Vorschlag, hier zu feiern, war von mir gekommen. Ich liebte diesen Ort. In den letzten Jahren hatte an der Elbe eine ganze Reihe von Beach Clubs eröffnet, mit Cocktailbars, Musik und lauschigen Plätzen zum Chillen und Grillen. Aber einem Naturstrand wie dem Falkensteiner Ufer konnten diese Clubs nicht das Wasser reichen, das jedenfalls war meine Meinung. Der Falkensteiner Strand, der bei Ebbe mehr als hundert Meter breit wurde, war noch eine richtig wilde Landschaft, ohne Buden oder touristische Attraktionen.Der Sand war weich und weiß und im Sommer, wenn die Sonne schien, hatte man manchmal wirklich das Gefühl, an der Südsee zu sein. Auf der anderen Uferseite lag Neßsand, eine flache Sandinsel, die seit den Fünfzigerjahren ein riesiges Naturschutzgebiet war, und an den Elbhang hinter uns grenzten die mächtigen Bäume der Mischlaubwälder. Sie leuchteten in warmen Herbstfarben, Rot, Orange, Goldbraun.
Als ich hinter Sebastian den schmalen Weg zum Ufer hinunterlief, musste ich plötzlich an die vielen Nachmittage denken, die ich mit meinen Eltern hier verbracht hatte, als Dad noch in Hamburg lebte. Wir hatten im Sand gesessen, Steine ins Wasser geworfen und die Ozeanriesen gezählt, die zum Greifen nah an uns vorüberglitten. Manchmal hatte Janne uns auch zu einem Spaziergang auf dem Elbwanderweg unterhalb des Steilhanges überredet. Wenn es sehr warm war, sonnten sich auf den schwarzen Steinen die Eidechsen, winzige, grün schillernde Wesen, denen ich Zauberkräfte angedichtet hatte. Ich wollte sie fangen, um sie mit nach Hause zu nehmen, aber kaum dass ich meine Finger nach ihnen ausstreckte, waren sie zwischen den Ritzen der Steine verschwunden.
Heute war die Sonne bereits untergegangen, aber noch immer war es voll wie im Sommer. Überall saßen Pärchen und kleine Gruppen auf Picknickdecken. Sie hörten Musik oder grillten, ein paar Männer spielten Fußball, am Ufer jagten sich zwei Hunde und links von uns baute eine Gruppe von Brasilianern einen Caipistand auf.
Suses Partyareal war mit Abstand das größte. Mithilfe ihres Vaters hatten wir am Mittag zwei große Tapeziertische für die Getränke, Salate und Fleisch für den Grill aufgestellt. Sebastians Vater hatte ein paar Vorspeisen aus seiner Cateringfirma beigesteuert und Dimo eine riesige Anlage, samt Boxen und Verstärker für die Livemusik. Überallhingen bunte Lampions und ein paar Jungs schichteten Holz für das Lagerfeuer auf.
Suse war gerade dabei, die Fackeln anzuzünden, mit denen wir in einem großen Halbkreis unser Revier abgesteckt hatten. Sie trug Cowboystiefel und ein flatterndes orangefarbenes Kleid, das mit lauter bunten Glasperlen bestickt war. Ihre langen Locken hingen offen über ihre Schultern und ihre Wangen glühten, als sie mir um den Hals flog.
»Alles Liebe für dich«, sagte ich und drückte meiner besten Freundin ihre Geschenke in die Hand. Suse riss das Papier von meinem Maskenbildnerbuch und grinste mich an. »Ha! Dachte mir doch gleich, dass das für mich war, als ich dich auf dem Flohmarkt erwischt hab. Das ist genial, Becky! Hab ich dir schon erzählt, dass Halloween ein Maskenball bei Uebel und Gefährlich stattfindet? Da müssen wir hin – und ich werde dir die heißeste Halloweenmaske der Nacht zaubern!«
Uebel und Gefährlich war ein Club in dem Bunker auf der
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