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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Welt sind die Berge! Dunkle Tannen, grüne Wiesen im Sonnenschein, Heidi, Heidi, brauchst du zum Glücklichsein . . .«
    Meine Freundin griff mich bei den Händen und wirbelte mich im Kreis herum, bis sich das Feuer, die Lampions und die Lichter der vorbeifahrenden Schiffe zu einem schwirrenden Satelliten verbanden, der sich um meinen Kopf drehte.
    Wir kreischten Holla-hidi-holla-hidi , und als wir uns Arm in Arm in den Sand fallen ließen, küsste Suse mich auf den Mund und sagte mir, dass sie sterben könnte vor Glück.
    Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Sebastian uns fotografierte. Neben ihm stand Dimo und lachte, und diesmal sah es aus, als freute er sich einfach nur, dass es Suse gut ging. Fast war er mir in diesem Moment sympathisch.
    Es war schon ziemlich spät, als wir uns in einer kleineren Gruppe vor dem Lagerfeuer niederließen, auf Isomatten und eingekuschelt in warme Decken. Sebastian saß hinter mir und hatte seine Arme um mich gelegt, Suses Kopf lag in Dimos Schoß. Aaron hatte Black Stories mitgebracht, diese Kartenspielserie mit morbiden Rätselgeschichten, die durch Ja-oder-Nein-Fragen gelöst werden mussten.
    Gerade ging es um einen Mann, der kopflos über die Straße fuhr. Ich riet ins Blaue, dass der Mann auf einem Motorrad saß, Sebastian folgerte, dass es sich um einen Unfall handelte, und Dimo löste schließlich das Rätsel: Ein vor dem Motorrad fahrender Lastwagen hatte einige Metallplatten gelagert, und als der Motorradfahrer zum Überholen ansetzte, löste sich eine Platte und trennte seinen Kopf sauber vom Rumpf.
    »Eklig«, sagte Suse. »Kein schöner Tod.«
    »Ich hab einen anderen.« Dimo hielt die nächste Rätselkarte hoch. »Romeo und Julia liegen tot am Boden. Neben ihnen sind Glasscherben und eine Pfütze. Das Fenster steht offen. Was ist passiert?«
    Es geschah ohne Vorwarnung. Die Bilder spulten sich vor meinem inneren Auge ab wie ein Film. Der Raum, die holzgetäfelten Wände, der Kronleuchter wabernd über meinem Kopf – plötzlich war alles wieder da. Der plüschgrüne Teppich, die Tagesdecke mit den grässlichen Blümchen. Die Gestalt über mir, die ich fühlte, ohne sie zu sehen. Ich selbst am Boden, winselnd, bettelnd.
    Scheiße! Ich ballte die Fäuste. Ich wollte diese Gedanken nicht haben. Es war der perfekte Abend, ich fühlte mich super – warum musste ich an so einen Müll denken?
    Sebastians Hände strichen durch mein Haar und um mich herum riefen die anderen durcheinander, bis sie die Lösung des Rätsels hatten.
    Romeo und Julia waren zwei Fische in einem Goldfischglas, das auf der Fensterbank gestanden hatte. Eine Katze hatte sich durch das offene Fenster geschlichen und das Aquarium zu Fall gebracht.
    Ich löste mich aus Sebastians Umarmung und murmelte, dass ich mal aufs Klo müsste. Öffentliche Toiletten gab es hier natürlich nicht, also verzog ich mich in die Büsche und lief dann, anstatt zu den anderen zurückzukehren, am Ufer entlang stromaufwärts. Hinter den Bäumen lugte die Spitze des Wittenberger Leuchtturms hervor. Es war merklich kühler geworden, auch windiger, aber es fühlte sich gut an, die frische Luft einzuatmen. Ich spürte sie in den Lungen, sog sie ein und drängte mit jedem Schritt die beklemmenden Gedanken zurück. Wie oft hatte ich Janne gesagt, dass ich nie ihren Job machen könnte. Wenn ich Therapeutin wäre, hätte ich meine Klienten wahrscheinlich schon nach der dritten Jammerstunde angeschnauzt, sich gefälligst zusammenzureißen. Und genau das sagte ich jetzt auch zu mir.
    Die ersten Meter stampfte ich beim Gehen fest auf. Meine Füße hinterließenSpuren im nassen Sand. Es war Ebbe. Am Himmel stand ein blasser, halb voller Mond und das Wasser hatte sich so weit zurückgezogen, dass die Wellenbrecher aus schwarzen Steinen wie dunkle Riesenzungen in den Fluss ragten. Dort, wo das Wasser aufgelaufen war, hatte sich der Sand verformt, er schimmerten wie flüssiges Quecksilber. Wieder musste ich an Dad denken, der mir auf unseren Spaziergängen die Gezeiten erklärt hatte.
    »Früher hatten die Menschen keine Ahnung davon, wie Ebbe und Flut zustande kamen«, hatte er gesagt. »Heute weiß man, dass es mit der Anziehung zwischen Erde und Mond zu tun hat. Die Schwerkraft der Erde zieht den Mond an und die Schwerkraft des Mondes zieht die Erde an. Zwischen diesen Kräften bilden sich die Gezeiten.«
    »Was ist Schwerkraft?«, hatte ich gefragt. Ich war vielleicht sieben Jahre alt gewesen und konnte mir einfach nicht vorstellen,

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