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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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referierte er weiter, »wurde der Einfluss, den Reeds Artikel auf die Veröffentlichungen des Schriftstellers hatte, genauer untersucht und als bedeutend beschrieben. Reed war bekannt dafür, Favoriten unter den Schriftstellern zu haben, die er mit ständiger Aufmerksamkeit bedachte. Ambrose Lovell gehörte zunächst dazu und verdankte seinen Erfolg nicht zuletzt den lobenden Rezensionen des Kritikers, dessen Begeisterung irgendwann ins Gegenteil umschlug. Reeds Verrisse zu Lovells Büchern, Theaterstücken und Kurzgeschichten erschienen in regelmäßigen Abständen über fast sechs Jahre. Offenbar hatten sie einen entscheidenden Anteil daran, dass sich Lovells Verleger nach und nach von seinem einstmaligen Lieblingsautor distanzierte. Lovells ältere Bücher wurden nicht mehr aufgelegt, die neuen Werke nicht mehr verlegt und derAutor geriet in Vergessenheit. Am 17. Oktober 1928 erhängte sich der englische Schriftsteller an der Gardinenstange über seinem Schreibtisch. Es war sein siebenundvierzigster Geburtstag und der letzte Satz seines halb fertigen Romans lautete: Es musste ein Ort existieren, an dem der Mensch erlöst wurde von allem, was an seiner Seele fraß, und es wurde Zeit, diesen Ort aufzusuchen.
    Mit diesen Abschiedsworten«, schloss Sebastian seinen Vortrag, »zeigte Lovell, dass er im Tod eine Erlösung sah, eine bessere Wirklichkeit als die, in der er lebte. Ob er diesen Ort gefunden hat, werden wir nie erfahren. Ich wünsche es ihm.«
    »Du meine Güte, das war ja richtig ergreifend«, sagte Suse auf dem Heimweg. »Hast du Tygers Hände gesehen?«
    Ja, hatte ich. Sie hatten gezittert und auch mir war das Referat ziemlich an die Nieren gegangen, vor allem nachdem Sebastian die Rolle des Kritikers erwähnt hatte.
    Als sich Lovell an der Gardinenstange erhängt hatte, war er ungefähr so alt gewesen wie mein Dad.
    Ich war heilfroh, dass ich auf Janne gehört und Tyger nicht das Buch gezeigt hatte. Und Sebastian würde ich besser auch nichts davon erzählen. Stattdessen nahm ich mir vor, selbst einen Blick hineinzuwerfen, sobald ich eine ruhige Stunde hatte.
    Nachmittags holte uns Dimo in seinem klapprigen Opel ab und fuhr mit uns zur Metro, wo wir für die morgige Geburtstagsparty von Suse einkaufen wollten. Suse war total aufgedreht und quiekte vor Lachen, als Dimo einer alten Dame eine Vorratspackung Kondome in den Einkaufswagen schmuggelte.
    Ich konnte nicht wirklich mitlachen, was Suse prompt merkte. Ab und zu warf sie mir einen misstrauischen Blick zu, aber sie sprach mich nicht darauf an und auch ich hielt den Mund.
    Ich hatte an meinem Vorsatz von Sonntag festgehalten. Ich hatte aufgehört, mich auf der Straße umzusehen, ich hatte aufgehört, vor meinem Fenster, im Diner, vor der Schule und sonst wo nach dem Jungen zu suchen, aber aus meinem Kopf ließ er sich einfach nicht verbannen. Immer wieder tauchte sein Gesicht vor meinem inneren Auge auf, immer wieder fühlte ich seine Blicke auf mir und seine Fingerspitze auf meinem Anhänger. Und jedes Mal, wenn das geschah, fragte ich mich, wo verdammt noch mal die alte Rebecca geblieben war, die diesen Unsinn einfach abgetan hätte.
    Laut Wetterbericht sollte der Samstag der wärmste Tag des Oktobers werden und tatsächlich stand das Barometer am Vormittag, als Suse und ich zusammen Tomaten für die Salate schnippelten, auf zwanzig Grad. Als ich dann am Nachmittag nach Hause kam, um mich für die Party umzuziehen, machte sich Spatz gerade fürs Theater fertig.
    »Wenn du nur geredet hättest, Desdemona«, flötete sie, »dann bräuchte ich heute nicht zur Arbeit.«
    »Wie bitte?«
    Spatz grinste. »Die Hauptdarstellerin hat gestern dreizehn Mal ihren Text vergessen. Im Theatercafé soll nach der Vorstellung einer der Gäste gesagt haben, man hätte die Souffleuse auch gleich auf die Bühne stellen können. Sag mal, weißt du, wo Janne steckt?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte bei Suse übernachtet.
    Auf dem Küchentisch fanden wir eine Nachricht und ein kleines Päckchen.
    Hab noch einen Termin. Bin gegen acht zurück. Wölfchen, viel Spaß auf der Party, das Päckchen ist für Suse. Drück sie von mir –und komm bitte nicht so spät nach Hause, ja? Kuss-Kuss für dich und Spatz, Mamajanne.
    Ich rollte mit den Augen. Komm bitte nicht so spät nach Hause?
    Was sollte das denn? Janne wusste doch, dass sie sich auf mich verlassen konnte. Sie hatte mir noch nie irgendwelche Vorschriften machen müssen, nicht einmal als ich noch jünger gewesen

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