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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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was er meinte.
    »Die Schwerkraft«, erklärte Dad, »wirkt so, als hätte man die Erde und den Mond mit einem unsichtbaren Band miteinander verbunden.«
    »Dann gehören sie eigentlich zusammen?«, hatte ich gefragt. »Obwohl sie so weit voneinander entfernt sind?«
    Dad hatte genickt und ich hatte das traurig gefunden.
    In Gedanken versunken blieb ich stehen. Langsam fühlte ich mich wieder besser. Der Spaziergang war genau das Richtige gewesen. Ich war viel ruhiger und meine Angst vor dem Albtraum erschien mir wieder furchtbar lächerlich.
    Du meine Güte, wie lang war das her – zehn Tage? Zwei Wochen? Auf alle Fälle lang genug, um es endlich zu vergessen!
    Ich sah mich um. Der kleine Leuchtturm war nur noch wenige Meter von mir entfernt. Seit ein paar Jahren stand er unter Denkmalschutz und zählte laut Dad zu den ältesten Stahlbautürmen seinerArt. Für mich hatte er einfach nur etwas Freundliches, Fröhliches. Sein oberer Teil war rot-weiß gestreift, unten aber war er gestrichen wie das Meer an der Südsee, blau, mit vielen bunten Fischen. Ich wusste, dass mittlerweile jede Menge Graffitizeichnungen dazugekommen waren, aber in der Dunkelheit konnte man nicht viel erkennen. Nur die hellen Scheinwerfer des Turms blinkten wie wachsame Augen in die Dunkelheit.
    Der Strand um mich herum wirkte wie ausgestorben. Schwarz hoben sich die mächtigen Bäume vom Himmel ab und in weiter Ferne sah ich wie winzige Pünktchen die Lichter des Hafens.
    Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, aber wenn ich nicht wollte, dass die anderen sich Sorgen um mich machten, musste ich langsam umkehren.
    Stattdessen ging ich noch ein Stück weiter. Ein schmaler Pfad führte um den Leuchtturm herum. Rechts zweigte ein Wanderweg ab, von hier aus konnte man bis nach Wedel laufen. Mich aber zog es nach vorn zu der kleinen Einbuchtung unterhalb der Steine. Hier wuchsen ein paar magere, vom Wind zerzauste Büsche. Ihre Zweige reckten sich schlangenförmig in die Luft. Ein Stück weiter, dicht am Ufer, brannte ein Feuer, vor dem jemand saß.
    Und als ich erkannte, wer es war, fühlte ich mich nicht mal überrascht. Im Gegenteil, es war nur folgerichtig.
    Er drehte sich zu mir um, blieb reglos sitzen, bis ich direkt vor ihm stand. Die Hände in den Jackentaschen, den Kopf leicht geneigt, sah er zu mir hoch. Das schwarze Haar fiel ihm in die Stirn und die Flammen warfen Schatten auf sein blasses Gesicht. Neben ihm, auf einem ausgerollten Schlafsack, lag ein Rucksack. Er griff danach, schob ihn zur Seite und deutete auf den freien Platz.
    »Setz dich«, sagte er. Und dann: »Ich habe jetzt einen Namen. Den wolltest du doch wissen, oder nicht?«

SIEBEN
    Wir saßen so dicht beieinander, als wäre der kleine Strand überfüllt von Menschen. Aber da war niemand außer uns beiden. Unsere Knie berührten sich.
    Mein Herzschlag, dachte ich. Er ist überall, in meinen Fingerspitzen, in den Zehen, in den Kniekehlen. In meiner Brust.
    »Mein Name ist Lucian«, sagte er, sehr leise, sehr langsam, als läge eine Frage darin.
    Er sah mich von der Seite an, wieder mit diesem intensiven und suchenden Blick, der mich auch bei unserer Begegnung auf dem Flohmarkt so verstört hatte. Sein Brustkorb hob und senkte sich und der Druck seines Knies verstärkte sich um eine winzige Nuance. »Und wer bist du?«
    »Rebecca.« Ich wollte noch mehr sagen und vor allem – fragen. Aber mein Kopf war leer. Eine Ahnung von Worten flackerte irgendwo auf, doch ich konnte keinen ganzen Satz formen, die Worte nicht so aneinanderreihen, dass sie einen Sinn ergaben. Irgendwo schrie ein Vogel, ein rauer, krächzender Laut, wir zuckten zusammen, derselbe kurze Ruck fuhr durch unsere Knie, sie bewegten sich auseinander, fanden sich wieder.
    Ihn – Lucian – zu berühren, mich an ihn zu lehnen, und sei es auch nur mit diesem winzigen Teil meines Körpers, war das Einzige, das einen Sinn ergab.
    »Das ist so . . . schräg«, hörte ich mich schließlich sagen. »Ich sollte weglaufen vor dir.«
    »Und stattdessen läufst du mir hinterher.« Sein Mundwinkel verzog sich zu diesem schiefen Lächeln.
    »Schwachsinn!« Ich war ärgerlich, dass er durch seinen blöden Spruch diesen merkwürdigen Bann gebrochen hatte, aber gleichzeitig auch wieder erleichtert. »Nein!«, schob ich noch einmal mit Nachdruck hinterher. »Ich wusste überhaupt nicht, dass du hier bist!«
    »Und was machst du dann hier?« Sein Tonfall klang belustigt, aber darin schwang noch etwas anderes

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