Lucian
anging, hielt sich Sebastian noch immer zurück, aber ansonsten war alles zwischen uns wie immer oder vielleicht sogar besser. Mit Suse alberte ich am liebsten herum, aber mit Sebastian konnte ich auch wunderbar schweigen.
Als Spatz am Dienstag in mein Zimmer kam, um uns zu begrüßen, saß ich an meinem Schreibtisch und zeichnete, während Sebastian es sich mit einem Roman auf meinem Sitzsack gemütlich gemacht hatte. Er war ein totaler Bücherfreak und Tygers englische Schauergeschichten gehörten zu seinen Favoriten. Nicht selten stand Sebastian nach der Stunde noch an Tygers Pult und diskutierte mit ihm oder stellte ihm Fragen.
Für diese Woche hatte Sebastian ein Referat über das Leben von Ambrose Lovell vorbereitet, Tygers Lieblingsautor.
Er stellte es am Freitag in der letzten Stunde vor. Es war der 80. Todestag des englischen Schriftstellers.
Tyger hatte Sebastian seinen Platz am Pult überlassen und sich selbst auf den freien Stuhl an meinem Nachbartisch gesetzt. Seine Hände spielten mit der goldenen Taschenuhr und in seinem Knopfloch steckte eine weiße Rose.
»Lovell wurde am 3. März 1881 in der englischen Grafschaft Suffolk geboren«, erzählte Sebastian. »Sein Vater war Pastor, doch Lovell wuchs in einer Atmosphäre der häuslichen Gewalt auf. In der Kirche predigte sein Vater die Gebote Gottes, in den eigenen vier Wänden vergriff er sich an seiner Frau und den Kindern. Als Lovells jüngster Bruder aus Angst vor dem gewalttätigen Vater Selbstmord beging, riss Lovell von zu Hause aus. Er war damals dreizehn Jahrealt und schlug sich als Schuhputzer in den Gassen Londons durch, bis er als Siebzehnjähriger seine ersten Kurzgeschichten verfasste, die von einem der anerkanntesten Verleger der damaligen Zeit veröffentlicht wurden. In den darauffolgenden Jahren schrieb Lovell wie im Rausch, arbeitete Tag und Nacht, oftmals ohne zu essen. Der Verlag hielt große Stücke auf ihn und seine Bücher wurden in immer größeren Auflagen veröffentlicht.
1921 begegnete Lovell der jungen Tänzerin Emily Stanford, die wenige Monate später seine Frau wurde. Ihr widmete der englische Schriftsteller seine einzigen Liebesgedichte.« Jenni und Paula kicherten, aber Sebastian nahm es nicht zur Kenntnis.
»Ein paar Jahre später brachte Emily ihren gemeinsamen Sohn zur Welt. Lovell nannte ihn David, nach seinem verstorbenen Bruder, und bezeichnete die Jahre, in denen er mit Emily zusammenlebte und Vater wurde, als die glücklichsten seines Lebens. Doch auch sein Sohn starb im Kindesalter. Als Vierjähriger erlag er den Folgen einer Lungenentzündung und im Juli desselben Jahres kam Lovells Frau Emily bei einem Unfall ums Leben. Sie wurde in London von einem Automobil überfahren und verblutete in den Armen des Schriftstellers.«
»Iiii«, kam es von Sheila. Sebastian warf ihr einen genervten Blick zu. Im selben Moment schlug Tyger mit der flachen Hand auf die Tischplatte, ein lauter, peitschender Schlag, der Sheila unverzüglich zum Schweigen brachte. In der Klasse herrschte Stille, sogar Aaron hielt sich mit seinen dummen Witzen zurück.
»Der Tod«, fuhr Sebastian fort, »prägte nicht nur das Leben Lovells, sondern zog sich anschließend als Hauptmotiv durch seine Werke. Am deutlichsten setzte sich Lovell in seinem unvollendeten Roman Der letzte Besucher mit diesem Thema auseinander. Der einsame Schriftsteller, der eines Nachts von seinem eigenen Tod heimgesuchtwird, sei zweifellos Lovell selbst gewesen, heißt es in einem Nachruf. Als Lovell an dem Roman schrieb, litt er bereits unter schweren Selbstzweifeln und war Alkoholiker. Zusätzlich machten ihm die vernichtenden Artikel des damals einflussreichsten Literaturkritikers Englands zu schaffen. Sein Name war William Alec Reed. Er war ursprünglich Amerikaner, doch er lebte in London und schrieb für die Times.«
Sebastian zitierte eine Quelle: »Das Einzige, das einen in Lovells Schauergeschichten das Gruseln lehrte, ist die unsägliche Wortwahl und quälende Behäbigkeit des Autors. Ist die eine Geschichte zu Ende, graut einem schon vor der Banalität der nächsten.«
Ich zuckte zusammen und war froh, dass mein Lehrer mit dem Rücken zu mir saß. Nur sein Profil konnte ich sehen. Tygers Blick war fest auf Sebastian gerichtet, der offenbar ziemlich gründlich recherchiert hatte. Das Buch über meinen Urgroßvater hatte ich in meiner Nachttischschublade verstaut, sein Wissen musste Sebastian also aus anderen Quellen erhalten haben.
»Nach Lovells Tod«,
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