Lucian
unvorstellbar, dachte ich und versuchte, seine Worte zu verdauen. Was musste das für ein Gefühl sein, nicht zu wissen, wer man war oder woher man kam? Was blieb übrig, wenn alle Erinnerungen verschwunden waren – an Eltern, Geschwister, Freunde? An eine Freundin?
Der letzte Gedanke gab mir einen Stich, kurz und heftig. Unwillkürlich hielt ich die Luft an.
»Und da ist niemand . . . der dich vermisst?«
Das Feuer knackte. Lucian starrte in die Flammen und zuckte mit seinen schmalen Schultern. »Nicht dass ich wüsste.«
»Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?«
»Da war ich bereits.« Lucian stieß ein Stück glühender Kohle zurück ins Feuer. »Wenn auch unfreiwillig. Die Klamotten des Penners waren nicht so ganz nach meinem Geschmack, da hab ich mir was anderes besorgt. Der Secondhandladen hatte eine ziemlich gute Auswahl und nach meinem Anfängerglück war ich wohl ein wenig zu übermütig. Als ich in einer Einkaufspassage ein paar T-Shirts und Unterwäsche mitgehen lassen wollte, haben sie mich geschnappt. Leider erwiesen sich die Polizisten nicht als besonders hilfreich. Sie hatten mehr Fragen als Antworten.«
Ich schluckte. Hatte Lucian den Secondhandladen in der Schanze gemeint? Denselben, in dem ich auch mit Suse gewesen war? Ich traute mich nicht, ihn darauf anzusprechen.
Lucian sah auf seine Handfläche. Ich folgte seinem Blick und wieder kam mir etwas daran merkwürdig vor.
Lucian ballte seine Hände zu Fäusten und vergrub sie in den Taschen seiner Lederjacke.
»Die Unterkunft auf dem Revier erschien mir auch nicht so verlockend«, fuhr er fort. »Also hab ich beschlossen, mich aus dem Staub zu machen.«
»Du bist abgehauen?«
»So könnte man es nennen.«
Ich war verblüfft. »Wie hast du das geschafft?«
Er lächelte schief. »Keine Ahnung. Als die Jungs sich auf dem Revier wegdrehten, bin ich raus. Es ging eigentlich ganz einfach.«
Ich dachte an den Tag in Doris’ Diner, wo Lucian die Zeche geprellt hatte. Seine geschmeidigen, leichtfüßigen Bewegungen hatten fast etwas Schattenhaftes gehabt.
»Und wo . . . wohnst du jetzt?«, fragte ich argwöhnisch.
»Hier und da.« Lucian strich über den Schlafsack, den er vermutlich auch irgendwo hatte mitgehen lassen. Seine Stimme klang ausweichend, es war ziemlich deutlich, dass er mir nicht mehr verraten wollte als unbedingt nötig.
»Und wovon lebst du?« Ich dachte an den Ratschlag der grünhaarigen Kellnerin. »Ziehst du die Masche mit dem Diner auch woanders durch?«
Lucians Blick wurde verschmitzt. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich kenne zwar mein Alter nicht, aber ich schätze mal, ich bin schon ein großer Junge und komme zurecht. Für heute ist mein Zuhause jedenfalls hier.«
Er legte den Kopf in den Nacken. Der Mond war ein Stück weitergewandert und die Sterne funkelten jetzt umso heller. Lucian wandte sein Gesicht zu mir. »Und jetzt«, sagte er lächelnd, »bist du wieder dran. Ich hab dich übrigens tatsächlich beim Schwimmen gesehen. Übst du für die Weltmeisterschaften oder so was?«
Ich lachte. »Nein. Bestimmt nicht. Ich war ein paar Jahre im Verein. Aber das hat genervt, jetzt trainiere ich lieber für mich. Irgendwann will ich mal durch den Lake Nacimiento schwimmen.«
»Wodurch?«
»Das ist ein See in Kalifornien. Mein Dad lebt da.«
»Ganz schön weit weg«, sagte Lucian. »Wie oft siehst du deinen Dad?«
»Immer wenn er mich besucht.«
»Und wie oft besuchst du ihn?«
»Nicht oft.« Ich verzog das Gesicht. »Um genau zu sein: Ich besuche ihn gar nicht.«
»Warum nicht?«
Ich zögerte. »Wegen meiner Stiefmutter«, murmelte ich.
»Ist sie böse?« Wieder war da dieses leise Lachen.
»Blödmann.« Ich verzog das Gesicht. »Natürlich nicht. Sie ist eher . . . eifersüchtig, glaube ich.«
»Eifersüchtig?« Lucian ließ seinen Blick über mein Gesicht wandern. »Weil du die Schönste bist, bei den sieben Zwergen, hinter den sieben Bergen?«
Ich stupste ihn an. »Ich weiß jetzt, wer du bist: Mein Spieglein an der Wand!« Ich musste lachen, aber gleichzeitig spürte ich auch, dass ich rot wurde. Ich hatte noch nie gut mit Komplimenten umgehen können und jetzt schon gar nicht. »Das mit meiner Stiefmutter«, sagte ich hastig, »hat mehr mit meiner richtigen Mutter zu tun.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ist eine längere Geschichte.«
»Erzähl sie mir.« Lucian lehnte sich zurück. Er kreuzte die Arme hinter dem Kopf. »Ich habe Zeit.«
»Meine Eltern waren nie ein richtiges Paar«,
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