Lucian
mit.
»Meine beste Freundin hat heute Geburtstag«, murmelte ich. »Die Party ist da drüben.« Ich zeigte nach links in die Dunkelheit.
»Und du? Feierst du nicht mit?« Sein Blick glitt über mein Gesicht. War er amüsiert? Neugierig? Überheblich? Ich wurde nicht schlau aus ihm. Ich schaute auf seine blasse Haut, die großen Augen mit den dunklen Schatten darunter, die hervortretenden Wangenknochen, die Lippen, die jetzt zu einem fragenden Lächeln verzogen waren.
»Halt«, sagte ich und schüttelte den Kopf. » Ich bin jetzt mit Fragen dran. Was machst du hier? Wo sind deine Leute?«
»Alles, was ich besitze, ist hier«, sagte er.
Er hielt einen Stein in der Hand und drehte ihn mit seinen schmalen Fingern hin und her.
»Hör auf mit dem Scheiß!« Ich war selbst erschrocken, wie viel Wut in meiner Stimme lag. »Hör auf damit. Ich will dieses Spiel nicht spielen. Ich will wissen, wer du bist. Okay? Das kann doch nicht so schwierig sein. Soll ich’s dir vormachen?« Ich holte tief Luft. »Also: Ich bin sechzehn Jahre alt und gehe ins Altonaer Gymnasium, elfte Klasse. Ich wohne – wie du weißt – in der Rainvilleterrasse Nummer 9. Ich bin mittags – wie du ebenfalls weißt – oft mit meinen Freunden bei Doris’ Diner, wo du neulich die Zeche geprellthast. Ein paar Mal in der Woche gehe ich schwimmen – auch das dürfte dir nicht unbekannt sein. Und wenn ich U-Bahn fahre, kaufe ich gewöhnlich eine Fahrkarte. Siehst du? Ganz einfach.«
Ich funkelte ihn an und spürte gleichzeitig den Kloß in meinem Hals. Ich fühlte mich dieser Situation nicht gewachsen und das war ich nicht gewohnt. »Also, schieß los, Lucian . Ich höre.«
Er nahm eine Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen war, zwischen seine Finger und steckte sie mit einer behutsamen Bewegung hinter mein Ohr. Als seine Fingerkuppe meine Haut berührte, fuhren wir beide zurück, als hätten wir einen elektrischen Schlag erhalten.
Sein Blick wurde traurig und sein Gesicht bekam wieder dieses Weiche, Verletzliche, viel stärker noch als auf dem Flohmarkt. Es war, als befände er sich auf dünnem Eis, als erstrecke sich ein gefrorener See zwischen uns und er stünde an dem einen, ich an dem anderen Ufer.
Und plötzlich fühlte ich ihn – seinen Wunsch, auf die andere Seite zu mir zu kommen, und ich fühlte seine Angst, dass die fragile Eisdecke einbrechen könnte und ihn hinabziehen würde in die tödliche Kälte. Es war verrückt, aber ich fühlte wirklich seine Gefühle. Nur was er dachte, blieb mir verborgen.
Er starrte auf meine Hände, die offen auf meinen Oberschenkeln lagen. Es sah aus, als suchte er die Antwort in meinen Handflächen.
»Ich weiß es nicht«, sagte er tonlos. »Ich weiß nicht, wer ich bin.«
Ein Funken löste sich von einem der Holzscheite. Lautlos stob er in den Himmel und erlosch. Lucian blickte ihm nach. Dann schleuderte er den Stein, den er bis jetzt in der Hand gehalten hatte, ins Wasser. Ich hörte den leisen Aufprall, dann war alles wieder still.
»Was meinst du damit?«, flüsterte ich.
»Ich meine genau das, was ich sage.« Jetzt klang seine Stimme zornig. »Ich war unter einer Brücke. Irgendwo am Hafen. Das ist das
Letzte, woran ich mich erinnere. Oder das Erste, wenn man es genau nimmt. Ich war . . . ich war nackt. Ein paar Meter weiter lag ein Penner und schlief. Neben ihm stand ein Einkaufswagen mit Klamotten. Ein alter Mantel, ein paar Hosen, ein Pullover, ausgelatschte Stiefel. Ich hab das Zeug angezogen. Dann bin ich losgelaufen. Irgendwann fand ich mich vor deinem Fenster wieder. Und dann ging das Licht an. Na?« Er sah mir in die Augen. »Wie gefällt dir das?«
Ich senkte den Kopf. »Nicht so gut.«
Was die reinste Untertreibung war. Es machte mir eine Scheißangst.
»Na bestens«, sagte Lucian. »Dann haben wir etwas gemeinsam. Ich fand es auch ziemlich . . . schräg, um mit deinen Worten zu sprechen. Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann. Ich weiß ja nicht mal, ob ich mir vertrauen kann.«
»Und deinen Namen? Lucian?« Ich hörte mir dabei zu, wie ich seinen Namen aussprach. Ich wiederholte ihn im Stillen, mehrere Male. Er klang fremd und dunkel und weich und schön.
Lucian. Der Name passte zu ihm.
»Woher hast du ihn?«, fragte ich.
»Ausgedacht«, erwiderte er. »Jetzt fehlt mir nur noch der Nachname. Und ein passendes Alter. Was meinst du? Wie alt würdest du mich schätzen?« Es sollte wahrscheinlich wie ein Scherz klingen, aber bei mir kam es nicht so an.
Wie
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