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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Aufsatz darüber, wie ihr diesen Satz empfindet. Ob er euch anspricht, etwas verheißt, euch in die Geschichte hineinzieht und wenn ja, warum.« Er blieb einen Moment vor meinem Platz stehen und musterte mich wieder auf diese seltsame Weise, die mir langsam unbehaglich wurde.
    »Stimmt was nicht?«, fragte ich genervt, aber er zuckte nur mit den Schultern und ging weiter.
    Ich verbrachte den Nachmittag vorwiegend damit, in den Bücherregalen von Janne und Spatz zu stöbern. Ich selbst besaß nicht viele Bücher. Lesen machte mich meist hibbelig, nach wenigen Seiten fühlte ich ein dringendes Verlangen, mich zu bewegen – und normalerweise hielt mich keine Ausgangssperre davon ab. Ich blätterte in den Romanen von Barbara Vine, Jannes Lieblingsautorin, nahm ein paar Dostojewskis heraus und blieb schließlich an Daphne du Mauriers Rebecca, hängen. Es war ein altes Buch, die Seiten waren schon ganz vergilbt. Der erste Satz lautete: Gestern Nacht träumte ich, ich sei wieder in Manderley.
    Ich zuckte zusammen und stellte das Buch zurück ins Regal. Schließlich nahm ich Kafkas Prozess in die Hand. Sein Roman begann mit den Worten: Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet.
    Na, dachte ich grimmig, das passt doch. Ich nahm das Buch mit in mein Zimmer, verschob den Aufsatz jedoch auf später. Ich erledigte meine Mathehausaufgaben, telefonierte mit Sebastian, der genauso wie Suse den Abend an der Elbe mit keinem Wort mehr erwähnte, aber zu meiner Erleichterung nicht mehr ganz so kühl war, und mailte mit Dad.
    Valerie lernte gerade schreiben und übte fleißig, indem sie ihre Hausaufgaben sprichwörtlich auf dem Esstisch erledigte. Mit einem wasserfesten Edding hatte Valerie die Tischplatte aus antikem Rosenholz mit Wörtern wie Cat, Fat und Hat vollgekritzelt.
    Was gibt’s Neues bei dir?, wollte Dad wissen.
    Meinen Hausarrest und das, was dazu geführt hatte, behielt ich für mich. Stattdessen fragte ich nach meinem Urgroßvater. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich Dad noch groß erinnerte, aber es interessierte mich.
    Schon am nächsten Tag kam die Antwort: Ach ja, die Biografie von Grandfather William Al – dann war die also bei euch? Kann nicht glauben, dass Janne sie auf dem Flohmarkt verkaufen wollte! Brav, dass du heroisch unsere Familiengeschichte rettest.
    Ich grinste und las weiter.
    Ich war noch ziemlich klein, als er starb, sechs oder sieben. Deine Großmutter sagte immer, dass er an nichts und niemandem ein gutes Haar ließ, aber mich muss er offensichtlich gemocht haben. Verrückt,dass er ausgerechnet das Bild am Lake Nacimiento in sein Buch gepackt hat. Meine Besuche dort sind die einzigen Erinnerungen, die ich noch an ihn habe. Dass er mir das Haus vererbt hat, hab ich dir erzählt, oder? Jedenfalls hat er dort seine letzten Lebensjahre verbracht, und zwar allein. An dem Anleger vor dem See hat er mir das Angeln beigebracht. Einmal hatte ich eine riesige Forelle am Haken. Ich hab geschrien wie verrückt, und als sie neben mir auf dem Holzsteg zappelte, hat mir dein Urgroßvater einen Stock in die Hand gedrückt. Er meinte, ich soll dem Fisch auf den Kopf schlagen, damit würde ich ihn betäuben. Ich kann dir sagen, das war ziemlich heftig! Und erst der Anfang. Dein Urgroßvater hat mir sein Messer gegeben. Er hat gemeint, ich soll zustechen. Zwischen den Brustflossen, Richtung Kopf, dort würde ich sein Herz treffen, erst dann wäre der Fisch richtig tot. Ich hab’s getan. Aber als mich der Fisch aus seinen toten Augen angestarrt hat, fing ich an zu flennen. Dein Urgroßvater wollte wissen, ob mir der Fisch leidgetan hat, aber das war es nicht.
    Ich hab geweint, weil ich dieses Gefühl beim Zustechen hatte. Es war wie ein Rausch. Ich hab mich furchtbar geschämt und das hab ich deinem Urgroßvater auch gesagt. Und dann hat er mir diesen Blick zugeworfen, ich glaube, deswegen erinnere ich mich noch so genau daran. Er erklärte mir, es gäbe viele Arten zu töten und diese sei ehrlich. Der Rausch, den ich dabei empfunden hätte, wäre normal. Dafür müsste ich mich nicht schämen.
    Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kommt es mir so grausam vor. Aber damals war ich mit seiner Erklärung zufrieden.
    Ich las die E-Mail mehrere Male. Dass Dad sein Ferienhaus am Lake Nacimiento von meinem Urgroßvater geerbt hatte, hatte ich nicht gewusst – oder zumindest erinnerte ich mich nicht daran. Aber viel mehr beschäftigte mich

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