Lucian
hastig zu verstehen, dass es okay wäre – wenn ich danach unverzüglich zurück nach Hause käme.
Mit dem Handy in der Hand lief ich zu meinem Schreibtisch, um mir die Zeiten zu notieren, dann verabschiedete ich mich.
Ich drehte mich zu Sebastian um. Er saß noch immer auf meinem Bett, die Füße hochgelegt, und starrte aus dem Fenster.
»Na, was wollte mein Vater?«, fragte er, ohne mich anzusehen.
Ich schluckte. »Ich soll auf einer Beerdigung kellnern.« Für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
Jetzt erst schaute er mich an. »Kommst du bitte mal?«, fragte er ernst.
Zögernd setzte ich mich zu ihm aufs Bett.
Sebastian erhob sich, stellte sich vor das Bett und sah auf mich herab.
Oh fuck. Ich hatte es so was von verbockt. Wie zum Teufel sollte ich ihm begreiflich machen, was mit mir los war? Es war nicht wie damals, als ich das Gefühl gehabt hatte, dass zwischen uns etwas fehlte. Zwischen uns war alles gut, viel besser als je zuvor – wie sollte ich Sebastian erklären, dass ich ihn diesmal wegen eines Typen zurückstieß, der psychische Probleme hatte, sich nach unserer letzten Begegnung nicht mehr hatte blicken lassen und es wahrscheinlich auch nicht mehr tun würde?
»Hör mir jetzt gut zu, Becks«, sagte Sebastian.
Okay, ich brauchte es gar nicht erst versuchen. Das war’s, Becks.
Ich krampfte meine Finger zusammen.
Sebastians Miene wurde noch eine Spur düsterer. Er schob die Augenbrauen zusammen. Und dann raunte er mit tiefer, dunkler Stimme:
»The foulest stench is in the air
the funk of foorty thousand years
and grizzy ghouls from every tomb
are closing in to seal your doom . . .«
Sebastians Körper versteifte sich. Mit aufgerissenen Augen und ausgestreckten Armen stakste er auf mich zu. Und während ich haltlos zu kichern begann, wackelte er mit den Hüften, fiel vor meinem Bett in die Knie, griff nach einem imaginären Mikrofon und schmetterte:
»Cause girl, this is thriller, thriller night . . .«
Dann pustete er sich das helle Haar aus der Stirn und grinste mich an. »Have fun bei der Beerdigung, Babe. Aber im Gegensatz zu dir bin ich noch nicht zum Grübelgrufti mutiert. Und bis ich mich vor Gram, dass du mein Flehen erhörst, auf Friedhöfen herumtreibe, müssen leider noch ein paar Jahrtausende vergehen.«
Er gab mir einen Stups auf die Nase. »Okay?«
»Okay«, sagte ich und hätte vor Erleichterung fast geheult.
Am Donnerstag nach der Schule nahm ich den Bus bis zum Bahnhof Altona, stieg in die S1 nach Ohlsdorf und lief über die Fuhlsbütteler Allee bis zum Haupteingang des Friedhofes. Ich war zum ersten Mal hier, und als ich die riesige Parkanlage hinter den schwarzen Eisentoren erblickte, war ich ziemlich überwältigt.
Sebastians Vater hatte mir am Tag zuvor eine Infobroschüre gemailt, in der ich gelesen hatte, dass der Friedhof mit seinen vierhundert Hektar der größte Parkfriedhof der Welt war. Aber mir war nicht klar gewesen, was das bedeutete.
Es gab Rosenhaine, verträumte Teiche und von Laubbäumen gesäumte Pfade, die zu Grabstätten aller Art führten. Bürgermeister, Senatoren, Dichter und Musiker hatten auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden. In der Broschüre hatte ich von Begräbnisstätten für Kinder gelesen, einem Schmetterlingsgarten und einem Ruhewald, um dessen Stämme herum sich Urnengräber gruppierten. Der Friedhof hatte sogar einen eigenen Busverkehr.
Es regnete schon wieder in Strömen, aber die Bäume trotzten dem grauen Himmel mit feurigen Herbsttönen und ich beschloss, den Weg zu der Grabstätte zu laufen. Wunderschöne Engelstatuen säumten den Weg. Wie Menschen mit Flügeln sahen sie aus und ich wusste selbst nicht, warum ich plötzlich an Sebastian dachte und daran, wie viel Überwindung es ihn gekostet haben musste, diesen Moment in meinem Zimmer mit einem Scherz abzutun.
Während ich mir in schlaflosen Nächten den Kopf darüber zerbrochen hatte, wie ich mich Halloween aus dem Haus schleichen konnte, ob Lucian zum Maskenball kommen würde, was ich sagen, tun oder fragen würde, falls er auftauchte und wie ich damit fertig werden würde, wenn genau das nicht passierte . . . war Sebastian derjenige, der da war. Warum konnte ich mich damit nicht zufriedengeben?
Wenn ich bei dir bin, geht es mir gut.
Von irgendwoher ertönte eine Glocke und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich ziemlich spät dran war. Mit der Broschüre in der Hand hastete ich zu dem historischen Wasserturm, der den Eingang
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