Lucian
jetzt die Frage, was mein Urgroßvater gemeint hatte, als er sagte, es gäbe viele Arten zu töten.
Ich musste an die Kritiken am Anhang seines Buchs denken, an seinen Ruf als Literaturkritiker – der Mann mit der tödlichen Feder –und an den Selbstmord von Tygers Lieblingsautor, dessen Werk mein Urgroßvater vernichtet hatte.
Ich überlegte kurz, ob ich Dad davon schreiben sollte, aber stattdessen fragte ich nach dem Wahlkampf. Dad erzählte ausführlich davon, dass er sich zum ersten Mal politisch engagierte. Er glaubte fest daran, dass sich Obama gegen McCain durchsetzen würde, aber der richtige Kampf stünde ihm erst danach bevor. Die Wirtschaftskrise war jetzt nicht mehr wegzulügen.
Die Mail endete wie immer mit den Worten: Wish you were here, little wolf, und ausgerechnet heute wollte er im PS wissen: Wie geht es denn der großen Wölfin?
Ich seufzte. Tja, wie sollte es ihr schon gehen? Sie kochte. Sobald Janne von der Arbeit kam, verwandelte sie unsere Küche in ein Drei-Sterne-Restaurant mit Gourmetgerichten aus aller Welt. Jeden Tag kam ein neues Festessen auf den Tisch; schwarze Spaghetti mit Kokosmilch und Shrimps, Rehragout an Rotwein-Kirschsauce, Seezunge mit Steinpilz-Béchamelkartoffeln, Loup de Mer mit Tomaten-Aprikosen-Salsa, gefüllte Hähnchenbrust in Marsalasauce auf Gorgonzola-Spinat. Beim Essen war das Schweigen so laut, dass ich kaum einen Bissen herunterbekam. Im Gegensatz zu Suse konnte ich ziemlich nachtragend sein, wenn ich mich ungerecht behandelt fühlte. Aber das hier war noch mal eine völlig andere Nummer. Streitereien zwischen Janne und mir hatten normalerweise etwas von einem Sommergewitter, ein kurzer, heftiger Ausbruch, danach war die Luft wieder rein. Das hier – dieses nebulöse, drückende Nichts – war Neuland für uns beide, oder besser gesagt: für uns drei.
Janne und ich hielten beim Essen die Köpfe gesenkt, und nachdem uns Spatz ungefähr hundert ihrer vielsagenden Blicke zugeworfenhatte, knallte sie die Gabel auf den Tisch und sagte, sie habe es satt, und zwar gründlich.
Ja, das hatte ich auch. Aber ich hatte keine Lust, den ersten Schritt zu tun. Janne war im Unrecht und ganz egal, welche Laus ihr über die Leber gelaufen war, ich fühlte mich nicht dafür verantwortlich.
Unsere letzte Ladys Night war ausgefallen, aber auch das war mir egal. Das Einzige, was mich mit jedem Tag mehr beschäftigte, war die Frage, wie ich am kommenden Freitag zu dem Maskenball gelangen sollte.
Seit unserer Begegnung am Strand hatte sich Lucian nicht mehr blicken lassen. Immer stärker beschlich mich das Gefühl, dass er mich überhaupt nicht wiedersehen wollte. Und die Chancen, dass er Halloween in diesem Club aufkreuzen würde, standen ebenso gering wie meine, das Haus zu verlassen. Der 31. Oktober war der letzte Tag meiner Ausgangssperre. Ich hatte den Tag mit einem kleinen roten Kreuz in meinem Kalender markiert, und je näher er rückte, desto nervöser wurde ich. Jeden Morgen starrte ich auf den Kalender, und wenn ich das tat, wurde mein Kopfkäfig enger und enger.
»Vielleicht lässt Janne dich ja gehen«, meinte Sebastian, als er mich am Wochenende in meiner Einzelhaft besuchte. In den letzten Telefonaten hatten wir uns Stück für Stück wieder angenähert.
Wir saßen auf meinem Bett, aßen Tacos mit geschmolzenem Käse und spielten unser altes Spiel Disco for two. Es bestand daraus, dass wir abwechselnd Songs aus meiner oder Sebastians – mitgebrachter –CD- Sammlung auswählten und auflegten, wobei wir versuchten, uns thematisch nach dem Vorgängersong zu richten und dabei oft wie wild durch die unterschiedlichen Genres sprangen. Am Ende brannten wir einen Mix aus den Songs, den wir mit dem jeweiligen Datum versahen und ihn Becks und Bastis Best of Times nannten. Mittlerweilehatte unsere Special Edition bereits zehn CDs hervorgebracht. Gerade hatte Sebastian stöhnend meinen Song Thriller von Michael Jackson ertragen. Jetzt schob er die Sawdust-CD von The Killers ein.
Draußen fiel der Regen wie an allen Tagen zuvor. Die Elbe hatte Hochwasser, gestern hatte es sogar eine Warnung im Radio gegeben.
Natürlich hatte ich Sebastian nicht erzählt, warum ich unbedingt zu dem Maskenball wollte.
»Vergiss es«, brummte ich als Antwort auf seine Vermutung, dass Janne mich gehen lassen würde. »Ich hab sie gestern gefragt.«
Es hatte mich jede Menge Überwindung gekostet und Jannes Antwort hatte sich wie eine weitere Ohrfeige angefühlt. Nein. Keine
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