Lucian
ein paar Sekunden, um mich davon zu überzeugen, dass die Kreatur in dem schwarzen Vinylkostüm tatsächlich meine beste Freundin war. Mein Blick wanderte von den kniehohen Plateaustiefeln zu einer knappen Kittelschürze, die mit jeder Menge Ketten an einem bauchfreien Vinyltop befestigt war. Hände und Unterarme steckten in schwarzen Latexhandschuhen. Suses linke Hand war mit einer Spritze in der Größe eines Presslufthammers bewaffnet und auf ihren toupierten Locken thronte ein schwarzes Lackhäubchen mit einem blutroten Kreuz.
»Voilà.« Suse breitete die Arme aus und drehte sich auf ihren hohen Absätzen einmal um die eigene Achse, sodass ich Dimos Hotpants sehen konnte, die ihre Hinteransicht zur Geltung brachten.
»Sei gegrüßt, kranke Schwester«, murmelte ich. »Wen willst du denn verarzten? Dr. Jekyll oder Mr Hyde?«
»Ich behandle gerade Dr. No.« Suse grinste. »Er liegt schon auf der Bahre und wartet auf sein Make-up. Was ist mit dir? Wie cool von Spatz, dass sie dich gehen lässt. Aber hast du überhaupt ein Kostüm?«
»Yep.« Ich zeigte auf die Tüte von Fairy Tale, dem Kostümverleih in Altona. In einer Rekordzeit von siebeneinhalb Minuten hatte ich genau das gefunden, was ich haben wollte: ein altmodisches Ballkleid aus elfenbeinfarbener Seide mit viel Spitze, trompetenförmigen Ärmeln und einem tiefen, eckigen Ausschnitt. Dazu hatte ich weißeSpitzenhandschuhe, silberne Haarkämme und eine Augenmaske aus perlmuttfarbenem Satin ergattert, die mit silbernen Pailletten durchsetzt war.
»Was soll das werden?«, fragte Suse.
»Schneewittchen auf Venezianisch«, entgegnete ich.
Suse zog die Stirn in Falten. »Findest du das nicht ein bisschen zu –nett?«
»Och«, sagte ich, »solange du in meiner Nähe bleibst, gleichen wir uns gegenseitig aus. Darf ich jetzt rein?«
»Sorry.« Meine Freundin machte eine einladende Armbewegung. Aus ihrem Zimmer dröhnte mir Killer Kaczinksy von Mando Diao entgegen.
»Wo ist deine Mutter?«, brüllte ich, als ich Suse durch den langen Flur folgte. Ich verstand Hengst und Hotel, mehr wollte ich gar nicht wissen. Dimo lag auf der Hollywoodschaukel. Er trug ein türkisfarbenes Chirurgenkostüm und hielt eine Flasche Bier in der Hand.
»Tach«, sagte er, nachdem Suse die Musik auf Zimmerlautstärke runtergedreht hatte. »Na, alles clisso? Wie fühlt man sich als entlaufener Knasti?«
»Blendend«, gab ich zurück.
Das Letzte, wonach mir der Sinn stand, war Konversation. Ich war so aufgekratzt, dass ich mich kaum konzentrieren konnte und schon gar nicht auf Dimos Sprüche.
»Wo ist dein blonder Loverboy?«, fragte er jetzt.
»Ja genau.« Suse legte ihre Spritze zur Seite. »Wo ist Sebastian?«
Ich setzte mich auf Suses Bett. Daneben stand der Hamsterkäfig. Ozzy drehte wieder mal seine endlosen Runden in dem kleinen Laufrad.
»Er hatte keine Lust«, entgegnete ich ausweichend. »Kennst ihn doch. Er steht nicht auf solche Partys.«
»Hast du ihm denn gesagt, dass du gehst?« Suse fixierte mich. Ichfühlte mich unwohl und hatte keine Lust, mich zu rechtfertigen. Aber sie hatte recht. Sebastian ging davon aus, dass auch ich zu Hause blieb. Er würde sauer sein. Ich überlegte kurz, ob ich Suse bitten sollte, ihm nichts zu erzählen. Aber mir fiel kein Grund ein. Oder besser gesagt: kein Grund, über den ich sprechen wollte. Würde Lucian kommen? Würde er verkleidet sein? Würde ich ihn erkennen? Und wenn er nicht käme, würde ich ihn jemals wieder . . .
»Hey?« Suse runzelte die Stirn. »Was ist denn los? Habt ihr Stress? Immer noch? Schon wieder?«
Dimo setzte sich auf der Hollywoodschaukel auf. »Mann, dieses Teil sondert vielleicht einen Sound ab. Soll ich mal eben vor die Tür?«
»Schon okay«, sagte ich hastig. »Alles ist bestens. Ich ruf ihn gleich an.«
»Gut.« Suse kniete vor der Hollywoodschaukel nieder, zog den Rollentisch mit ihren Schminkutensilien zu sich heran und schnappte sich aus einer Kulturtasche eine kleine Tube mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, die wie Superkleber aussah.
»Das ist ein Spezialgummi«, erklärte sie fachmännisch, als sie einen dicken Streifen über Dimos Stirn zog. »Der wird schnell hart und lässt sich gut modellieren.«
»Interessant«, säuselte Dimo.
Suse wurde knallrot. Ich grinste. Den Kommentar hatte sie sich selbst eingebrockt. Sie verteilte eine eitergelbe Paste auf Dimos Gesicht und machte sich an seine dekorative Stirnverletzung. Nachdem sie einen fetten Wulst aus dem getrockneten
Weitere Kostenlose Bücher