Lucian
hat er behalten. Er hörte die Musik im Geist. Oder in der Seele.«
Lucian legte seine Hände auf meine Schultern. Dann beugte er sich vor, bis die Schnabelspitze seiner Maske meine Lippen berührte. Ganz sanft. Ich spürte seinen Atem, während meiner schnell und flatternd ging.
»Ich möchte dir keine Angst machen«, sagte er leise.
»Warum sagst du das?«, fragte ich und griff nach seinen Händen. »Ich habe keine Angst vor dir. Im Gegenteil. Ich fühle mich sicher, wenn du bei mir bist. In deiner Nähe geht es mir gut. Und du hast an dem Abend an der Elbe noch genau dasselbe empfunden. Oder . . .«, meine Stimme fing an zu zittern. » . . . oder hat sich das jetzt etwa geändert?«
Lucian entzog sich mir. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete mich. Um seinen Mund lag ein verzweifelter Zug. »Nein, es hat sich nicht geändert«, murmelte er. »Nur . . . da ist noch etwas. Ich kann es nicht erklären. Was ich für dich empfinde, ist . . . es ist zu stark, Rebecca! Ich habe Angst vor mir selbst – und vor dem, was ich vergessen habe. Was, wenn es etwas Furchtbares war?« Lucian machte noch einen Schritt zurück, bis er mit dem Rücken an der Brüstungstand. »Vielleicht bin ich böse«, flüsterte er. »Gefährlich, krank im Kopf, vielleicht . . .« Er schien es nicht fertigzubringen, den Satz zu Ende zu sprechen. »Kannst du das verstehen?«
»Nein!«, platzte ich heraus. Dann: »Ich weiß nicht. Vielleicht.«
Wieder dachte ich an diesen Artikel aus der Zeitung und an Jannes Theorie, dass sich der Körper nach einem Schockerlebnis schützte, um quälende Erinnerungen zu verbannen.
Hatte er vielleicht doch recht? Was wäre, wenn bei Lucian dieser Schock darin bestand, dass er selbst etwas Schreckliches getan hatte? Dass er – um mit Jannes Worten zu sprechen – das Opfer seiner eigenen Gewalt geworden war?
Ich senkte den Kopf. »Ja«, flüsterte ich schließlich. »Ich kann es verstehen.«
Lucian sah mich an. Selbst durch die Maske bemerkte ich, wie traurig er war.
»Siehst du«, sagte er leise.
»Nein!« Ich machte einen Schritt auf ihn zu und griff wieder nach seinen Händen. »Nein, so meinte ich es nicht. Ich verstehe, was du denkst. Aber du irrst dich. Du bist nicht böse. Ich weiß es. Ich fühle es.«
Ehe Lucian etwas erwidern konnte, fuhr ich hastig fort: »Du musst dir helfen lassen. Du musst jemanden finden, dem du vertraust, jemanden, der sich mit solchen Dingen auskennt.«
Ich unterdrückte ein Stöhnen. Deine Mutter hat es drauf, hatte Leroy gesagt. Ja, das hatte sie zweifellos; aber Janne von Lucians Problemen zu erzählen oder ihn zu ihr zu schicken, erschien mir auf einmal völlig undenkbar.
Plötzlich war ich unglaublich erleichtert, dass ich Lucian ihr gegenüber mit keinem Wort erwähnt hatte.
Wenn Lucian irgendjemand gewesen wäre, ein Fremder, meinetwegen ein Klassenkamerad, ein Bekannter. Aber das war er nicht. Er berührte mich stärker als jeder andere Mensch, dem ich in meinem Leben begegnet war, und ihm schien es umgekehrt mit mir genauso zu gehen. Wenn Janne die Puzzlestücke seiner Geschichte erführe, wenn sie dahinterkäme, wie wir uns kennengelernt hatten, wie er mitten in der Nacht unter meinem Fenster gestanden hatte und mit welchen Ängsten er sich herumschlug, würde sie mich erst recht nicht mehr vor die Tür lassen – und ihn womöglich anzeigen.
»Da ist jemand«, unterbrach Lucian meine Gedanken. Erschrocken sah ich über die Schulter. Die drei Zombies waren gegangen, jetzt waren nur noch Freddy Krueger und die beiden Hexen da. Die eine lehnte über der Balkonbrüstung, während Freddy Krueger mit der anderen herumknutschte.
Lucian lachte. »Ich meine nicht hier«, sagte er. »Es gibt jemanden, dem ich von mir erzählt habe. Und es gibt ein paar Dinge, die ich herausgefunden habe.«
Es gab jemanden? Wen? Meinte er den Typen mit der Bar? Nein, den bestimmt nicht. Oder doch? Plötzlich wusste ich nicht, ob ich erleichtert oder eifersüchtig war. Warum vertraute er sich jemand anderem an – warum nicht mir?
»Und wer ist das?«, fragte ich. »Was hast du herausgefunden?«
Lucian holte tief Luft. Er senkte den Kopf, wurde zur Maske. Dann sah er mich an.
»Darf ich . . . dich etwas fragen?« Seine Stimme war kaum zu verstehen.
»Ja«, sagte ich schnell. »Ja klar.«
»Dein Dad«, setzte Lucian an. »Spricht er englisch mit dir?«
Ich stutzte. »Ja. Wieso?« Das hatte ich ihm doch schon gesagt.
Lucian legte seine Fingerspitze auf die kleine
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