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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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deine Vergangenheit weiß, will ich wenigstens deine Gegenwart kennenlernen. Ich will wissen, wie du lebst, was mit dir ist.«
    Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Ich hasste es, mir diese Blöße zu geben. Aber ich konnte nicht anders.
    »Bitte«, sagte ich und fühlte mich wie ein nörgelndes Kind. »Bitte –verrat mir wenigstens, ob es mittlerweile etwas gibt, an das du dich erinnerst. Oder sonst irgendetwas, das du über dich herausgefunden hast.«
    Lucian schwieg. Von der anderen Seite des Balkons ertönte ein lautes Lachen. Einer der Zombies hatte einen Witz gerissen, die anderen prusteten los.
    Dann war alles still. Nur die Autos rauschten unter uns über die Straße, irgendwo in der Ferne dröhnte eine Sirene und schließlich ertönte hinter der geöffneten Balkontür ein neues Musikstück.
    Lucian lehnte sich über die Brüstung und sah hinunter auf die Straße.
    »Ich mag keine Bananen«, sagte er in die Dunkelheit hinein. »Ich empfinde Ekel vor Steaks, dafür liebe ich Lammfleisch. Ich mag Spiegelei und gekochte Eier, aber nur, wenn das Eigelb weich ist und das Eiweiß hart. Ich mag dunkles Körnerbrot und gesalzene Butter. Ich mag grüne Äpfel, aber nicht die roten. Für Bitterschokolade könnte ich morden. Marzipan schmeckt göttlich. Bier schmeckt bitter, der Schaum ist widerlich. Ich mag Espresso mit viel Zucker. Von Whiskey wird mir warm und nach ein paar Gläsern vergesse ich, dass ich mich an nichts erinnern kann. Das Kiffen kam dagegen nicht so gut. Ich glaube, Drogen sind nichts für mich.«
    Er hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen. »Aber das Verrückte ist, dass ich bei allem, was ich esse, trinke oder sonst zu mir nehme, ein Gefühl vom ersten Mal habe. Mein Geschmackssinn erinnert sich nicht. Auch mein Tastsinn nicht. Wenn mich jemand berührt, wenn . . .« Lucian fuhr mit der Fingerspitze über meine Wange, »wenn ich dich berühre, das fühlt sich unbeschreiblich an. Als ob ich noch nie jemanden angefasst hätte.«
    Seine Finger glitt weiter, an meinen Wangenknochen entlang, über das Kinn, hinunter zum Hals.
    Ich schloss die Augen. Ich konnte nicht glauben, dass man eine flügelfeine Berührung so intensiv empfinden konnte. Weiße Blitze jagten durch meine Adern, zuckten in meinem Bauch, direkt in meinen Unterleib.
    Als ich merkte, dass Lucian seinen Finger wegziehen wollte, hielt ich seine Hand fest, aber er entwand sich sanft meinem Griff.
    »Ich mag keinen Hip-Hop«, fuhr er fort. »Techno, all dieses Elektrozeugs«, er machte eine Bewegung Richtung Tür, »geht mir total auf den Geist. Neulich lief ein Klavierkonzert im Radio. Ludwig van Beethoven. Das war’s. Ich bin sofort in die Bibliothek gelaufen, hab alles Mögliche über ihn gelesen und mir eine CD geklaut. Die neunte Symphonie ist das Schönste, was ich jemals gehört habe. Wusstest du, dass Beethoven dieses Werk geschrieben hat, als er schon völlig taub war?«
    »Ja«, sagte ich. Davon hatte Janne mir erzählt. »Meine Mutter ist ein echter Freak, was Beethoven betrifft«, fügte ich hinzu. »Sie hat sämtliche Stücke von ihm, aber die Neunte mag sie auch am liebsten.«
    »Wie passend.« Lucian grinste. »Dann lad mich doch zu dir ein. Vielleicht leiht sie mir was.«
    Ich biss mir auf die Unterlippe, sah über die Brüstung in Richtung Hafen, wo Janne jetzt im Krankenhaus lag. Morgen würde sie entlassen werden.
    »Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee«, sagte ich. »Vielleicht sollte ich dich wirklich meiner Mutter vorstellen. Wenn sie dich erst mal kennenlernt, kann sie dir vielleicht helfen. Sie . . . »
    Lucian legte mir den Finger auf die Lippen. »Nein«, sagte er bestimmt. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich kenne deine Mutter nicht, aber nach dem Ärger, den du neulich Nacht mit ihr hattest, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich der Typ Freund bin, den sie sich für ihre Tochter wünscht.«
    »Sonst ist sie nicht so«, entgegnete ich nachdrücklich. »Ich hab keine Ahnung, was in letzter Zeit mit ihr los ist. Und wer weiß – wenn dir Beethoven so gut gefällt, vielleicht warst du ja selbst ein berühmter Komponist?« Ich dachte an die Geschichte von dem Pianisten und musste lachen. »Damit könntest du sicher Eindruck schinden.«
    »Klingt verlockend.« Lucian lächelte. »Den Wunschgedanken hatte ich selbst schon. Ich hab mir die Noten in der Bibliothek angeschaut. Konnte leider nicht das Geringste mit ihnen anfangen. Beethoven hat sein Gehör verloren, aber seine Erinnerung

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