Lucian
ätzende Tage, an denen ich der nervtötenden Achterbahnfahrt meiner Gefühle ausgeliefert war. Ich war verstört gewesen, verwirrt, traurig, ängstlich, hilflos, ratlos. Aber jetzt war ich nur noch wütend, und zwar auf Gott und die Welt. Die da wäre: Tyger mit seinen zynischen Scherzen und seinem Röntgenblick. Suse, die reumütig meine Nähe suchte. Sebastian, der mir die kalte Schulter zeigte und so tat, als wäre ich Luft. Janne, die Sonntag aus dem Krankenhaus gekommen war und mir seitdem mit dieser aufgesetzten Freundlichkeit begegnete. Und Lucian, der mich mit lauter Fragen zurückgelassen hatte.
Aber am allermeisten war ich wütend auf mich selbst. Ich hasste dieses grübelnde, verstörte Etwas, zu dem ich mutiert war. Die Leere in meiner Brust, diese Scheißsehnsucht – nach einem Jungen, der bis zum Hals in Problemen steckte und mir nichts als Rätsel aufgab.
Um mit Tygers Worten zu sprechen: Nein: Ich hatte nicht vor, anderen Leuten vors Auto zu laufen und ihr Leben zu versauen. Ich wollte mein Leben zurück! Ich wollte Spaß haben, albern sein. So wie immer. So wie früher.
Stattdessen lief ich durch die Gegend wie ein gepanzerter Einsiedlerkrebs, ließ niemanden an mich heran und konnte mich auf nichts konzentrieren, nicht mal, wenn ich in der Alsterschwimmhalle auf das Wasser eindrosch.
Seit Janne meine Ausgangssperre aufgehoben hatte, flüchtete ich jeden Nachmittag dorthin, aber genau wie in den letzten Tagen fühlte ich mich auch heute schwer und träge, und als mir zwei alte Tanten mit geblümten Bademützen die Bahn versperrten – gerade als ich ausnahmsweise einmal in Fahrt war –, fauchte ich sie an wie eine wild gewordene Furie.
Die beiden Tanten quietschten erschrocken auf, bevor sie auf dieandere Bahn flohen. Na bitte, geht doch, dachte ich grimmig. Der Weg vor mir war frei.
Hast du ein Kleid getragen? Ein blaues? Hellblauer Frottee? Mit einem aufgedruckten Goldfisch? Deine Schultüte? War sie rot? Mit weißen Punkten?
Irgendwie schien mein Gedächtnis seinen eigenen Wertespeicher zu haben. Während ich nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was ich an meinem ersten Schultag getragen hatte, wusste ich seltsamerweise noch ganz genau, was es an jenem Tag zum Mittagessen gegeben hatte: Buchstabensuppe bei Mama Leone, einem Italiener in Altona, der viele Jahre lang unser Stammrestaurant gewesen war. Ich erinnerte mich an Dad, Janne und Spatz, die mit mir an dem Tisch neben der Bar saßen, und ich erinnerte mich an den schönen Kellner, der mich immer Signorina nannte. Er hatte Wimpern wie Liza Minelli (hatte Spatz festgestellt) und ein Lächeln, das ich am liebsten in einem Doggybag mit nach Hause genommen hätte, weil es gute Laune machte. Aber alles andere war weg, versunken in irgendeiner Tiefe, an die ich nicht herankam.
Natürlich gab es auch Fotos von jenem Tag und ich hatte noch Samstagnacht den Dachboden durchwühlt, um sie mir anzusehen, aber ich hatte sie nicht gefunden. Das ganze Album war verschwunden.
Janne, Spatz und ich hatten es an einer verregneten Ladys Night zusammen angefertigt. Ich war damals zehn oder elf gewesen. Wir hatten einen Karton voller Bilder ausgeschüttet und Janne hatte gelacht und gesagt, wie seltsam das sei, ein ganzes Puzzle aus Vergangenheit, zusammengewürfelt vom Zufall. Wir sortierten die Bilder, klebten sie ein und hielten sie fest, diesmal in einer stimmigen Folge. Janne schwanger. Janne auf der Geburtsstation im Krankenhaus Barmbek. Janne mit mir als winzigem Paket in ihren Armen, meineAugen fest geschlossen, als sei der Schlaf harte Arbeit, auf die ich mich konzentrieren musste. Unter dem Foto war das Gedicht von Rilke, das Janne und Dad als meinen Geburtsspruch ausgewählt hatten.
Geheimnisvolles Leben du,
gewoben
aus mir und vielen unbekannten Stoffen,
geschieh mir nur.
Mein Sinn ist allem offen,
und meine Stimme ist bereit zu loben.
Ich hatte Spatz auf das Album angesprochen, bevor sie ins Krankenhaus gefahren war, um Janne zu holen. Aber sie wusste nicht, wo es war, und Janne, die ich abends danach gefragt hatte, hatte nur stumm den Kopf geschüttelt.
Sie hatte nach Schweiß und Krankenhaus gerochen. Mühsam war sie auf Krücken zur Tür hereingehumpelt, schweigsam, nervös und unendlich erschöpft.
Nachts hatte ich Dad gemailt, dass ich ein paar Fragen an ihn hätte, aber es kam nur eine Autoreply zurück.
Und heute, vier Tage später, war ich immer noch nicht weiter. Nach dem Schwimmen ging ich nach Hause, versuchte, meine
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