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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Flügel und flog davon in den grauen Himmel. Ich starrte hinter ihr her.
    Can you hear me, can you hear me
Through the dark night, far away . . .
    Die Stimme erreichte mein Ohr wie durch Nebel. Sie klang leise, rau – und ein klein wenig ironisch. Ich kannte die Melodie. Ich kannte den Text. Rod Stewards Sailing. Im Hintergrund ertönte Kichern.
    Mühsam riss ich meinen Blick vom Fenster los. Und merkte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Das Objekt der allgemeinen Belustigung war ich. Tyger sang diesen blöden Song und machte mich vor der ganzen Klasse zur Idiotin. Ich fasste es nicht, dass ich es nicht gleich mitbekommen hatte. Wo war Tyger überhaupt? Er stand nicht am Pult. Er stand auch nicht am Fenster oder an der Wand neben der Tür.
    Can you hear me, can you hear me . . .?
    Das Kichern im Klassenraum verwandelte sich in haltloses Gelächter. Sämtliche Blicke waren auf mich gerichtet, mit Ausnahme von Sebastian, der demonstrativ in sein Buch schaute. Auch Suse konnte sich nur mühsam beherrschen. Sie presste ihr Knie gegen meins und zeigte unauffällig mit dem Daumen nach hinten. Tyger stand direkt hinter meinem Stuhl, so nah, dass ich seinen hellgrauen Anzug mit dem Ellenbogen streifte, als ich mich umdrehte.
    »Hello there, Miss Wolff«, sagte er mit seinem ironischen Lächeln.
    »Na, sind wir von unserem Segelflug in die Wolken zurück? Du solltest lieber auf der Erde bleiben mit deinen Gedanken. Noch besser: im Klassenzimmer. Du willst doch nichts versäumen, oder?«
    »Nein«, schnappte ich verärgert zurück.
    »Very well.« Tyger legte mir seine Hand auf die Schulter. Es war eine Berührung, die im Gegensatz zu dem unterkühlten Tonfall seiner Stimme stand. »Dann schlage ich vor, du konzentrierst dich auf das Hier und Jetzt. Es soll Menschen geben, die träumend vor ein fahrendes Auto laufen. Anderen Leuten auf diese Weise das Leben zu versauen, gehört sich nicht.«
    Empört schnappte ich nach Luft, aber da war Tyger schon wieder zum Pult gegangen. Er nippte an seinem Tee und fragte nach Freiwilligen, die ihren Aufsatz vorlesen wollten. Ich hatte meinen nicht mal angefangen und hoffte, dass mich Tyger für den Rest der Stunde in Ruhe lassen würde.
    Zu meinem Erstaunen war es Sheilas Hand, die jetzt in die Höhe schoss. Tyger hob eine Augenbraue, als er sie drannahm. Sheila hatte den ersten Satz aus Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray ausgewählt. Um niemals zu altern und ewig schön zu bleiben, war der junge Dorian Gray bereit, seine Seele zu opfern. Der Roman begann mit den Worten Das Atelier war voll vom starken Dufte der Rosen und Sheila beschrieb mit ihrem fürchterlichen Akzent, aber dennoch fehlerfrei,wie der irische Schriftsteller Oscar Wilde schon in diesem ersten Satz deutlich machte, dass natürliche Schönheit vergänglich ist. Der Duft, der jetzt noch stark war, würde vergehen. Die Rosen, die jetzt noch blühten, würden welken. Nicht zuletzt das Wissen darum mache ihren Anblick noch schöner, ihren süßen Duft noch intensiver.
    »Excellent work«, bemerkte Tyger, als Sheila ihren Aufsatz zu Ende vorgelesen hatte. Aber sein Blick richtete sich nicht auf Sheila, sondern zielte in eine andere Richtung. »Was hast du dafür genommen, Sebastian? Oder war dir Sheilas Schönheit Anreiz genug für diese kleine Dienstleistung?«
    Wieder wurde unterdrücktes Kichern im Klassenzimmer laut. Auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Dass dieser Aufsatz nicht auf Sheilas Mist gewachsen war, war offensichtlich, aber dass Tyger den wirklichen Verfasser so treffsicher entlarvt hatte, überraschte selbst mich.
    »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Sebastian setzte sein bestes Pokerface auf, doch Sheila war rot bis unter die Haarwurzeln geworden.
    »Das habe ich selbst geschrieben!«, verteidigte sie sich.
    »Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt«, pflichtete Tyger ihr wohlwollend bei. »Machen wir es so. Du gibst mir den Aufsatz, und wenn du Sebastians Vorlage wirklich fehlerfrei abgeschrieben hast, setze ich vor deine Sechs noch ein Plus, als Zeichen meines Sportsgeistes. Einverstanden?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Tyger von der mittlerweile mit den Tränen kämpfenden Sheila ab. »Und welches Buch hast du für dich gewählt, Sebastian?«
    Sebastian räusperte sich. Dann las er seinen Aufsatz vor, von dessen Inhalt er mir in der letzten Woche bereits erzählt hatte, kurz bevor er mich hatte küssen wollen.
    Fünf Tage waren seit dem Maskenball vergangen. Fünf

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